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Geärgert und gefreut: die Medien-Kolumnisten des Tagesspiegels: (v.l.n.r.u.v.o.n.u.) Markus Ehrenberg, Rosa Feigs, Nikolaus von Festenberg, Katja Hübner, Thomas Gehringer, Tatjana Kerschbaumer, Joachim Huber, Barbara Nolte, Kurt Sagatz und Thilo Wydra.

© ARD, fotostudiocharlottenburg, Privat (3), Jo Fischer, Mike Wolff, Kitty Kleist-Heinrich, Kai-Uwe Heinrich (2), Archiv Wydra. Montage: Thomas Mika

Zu meinem Ärger: Böhmermann, Terror-Urteil, Homeland, NSU-Trilogie, Fake News und eine App

Das Beste zum Schluss: 51 Mal haben Prominente dem Tagesspiegel in diesem Jahr gesagt, worüber sie sich in den Medien geärgert und gefreut haben. Jetzt sind wir dran.

Markus Ehrenberg

Ärger: Berichte unter Echtzeit-Bedingungen. Klar, das Bedürfnis ist groß, Zuschauer auf dem Laufenden zu halten, wenn Schreckliches, wenn Terroranschläge passieren – aber nützt es, wenn wir die Anzahl der Opfer verfolgen wie Sportergebnisse? Möglicherweise hilft es auch, sich erst mal dem Nachrichtenstrom zu entziehen, wenn sichergestellt ist, dass keine unmittelbare Gefahr droht, man nichts weiter tun kann, um zu helfen.

Freude: Gefühlt gab es ja jeden Tag eine neue Serie auf Amazon Prime, Netflix, Sky etc. Sci-Fi, Mystery, Comedy, viel hängen geblieben ist da nichts. Keine erzählerische Offenbarung à la „True Detective“ oder „Fargo“. Bleibt die spannende fünfte Staffel von „Homeland“ auf Sat1, die komplett in Berlin spielte, (leider) manches an Terrorszenarien vorwegnahm und Lust macht auf die Fortsetzung 2017, mit Geschichten um die US-Präsidentenwahlen.

Rosa Feigs

Ärger: Über die Latenight-Show „Applaus und Raus!“. Privatsender ProSieben hatte angekündigt, das Format auf den Prüfstand zu stellen. Heraus kam eine peinliche One-Man-Show mit Oliver Polak, wenig Interessantes von den Gästen, die oft nicht über die Begrüßung hinaus kamen und fragwürdige Ergüsse wie der Hashtag #gastoderspast aus der ersten Sendung. Ach, wie witzig.

Freude: Über das neue Jugendangebot funk von ARD und ZDF. Nach jahrelangem Hin und Her wurde endlich verstanden, dass der Blick über den Tellerrand des linearen Fernsehens ein Schritt ins 21. Jahrhundert ist. Wie die Öffentlich-Rechtlichen das ehrgeizige Projekt weiterentwickeln? Unklar. Die schnelle Anpassung der anfangs chaotischen funk-App gibt Grund zur Hoffnung.

Nikolaus von Festenberg

Ärger: Über Anne Will. Talkleiter stecken in einer Autoritätskrise. Nur Anne Will spielt unverdrossen das Domina-Spiel. Sie ist halt die souveräne Jauch-Nachfolgerin. Souverän? Nicht selten zieht die Talk-Karawane zu schnell für Frau Will. Dann stoppt sie den Zug und rekapituliert bereits Abgefragtes. Die TV-Oberlehrerin will den Unterricht in der Hand behalten. Der Mummenschanz mit der Schweizer Burka-Trägerin stammt aus solcher Selbstherrlichkeit.

Freude: Über Jördis Triebel. Im Film „Emmas Glück“ umarmte sie als Schweinezüchterin eine arme Sau und schnitt ihr dann die Kehle durch.

2016 sehen wir weiter eine souveräne Amazone. Triebel übt so strahlend verführerisch Verrat an einem Journalistenkollegen („Die vierte Gewalt“): Da muss die Moral einpacken. In „Terror – Ihr Urteil“ bringt sie als Witwe eines abgeschossenen Flugzeugopfers wahres Leben in den vom Verdursten bedrohten Juristendiskurs.

Katja Hübner

Ärger: Genervt hat mich die Berichterstattung über den Fall Böhmermann. Tagelang taugte die Affäre um ein Schmähgedicht gegen Erdogan zu Spitzenmeldungen in allen Medien, eine über alle Maßen überzogene und unverhältnismäßige Kampagne. Apropos Türkei: Eine weitaus höhere Medienpräsenz hätte das Schicksal von zehntausenden Menschen verdient, die infolge des gescheiterten Putsches verhaftet, entlassen, gedemütigt wurden.

Freude: Drei junge Regisseure, tolle Schauspieler, das wohl heikelste Thema im Nachkriegsdeutschland – mit der NSU-Trilogie hat sich öffentlich-rechtliches Fernsehen etwas getraut. Ein lauter Vorwurf an den Staat: Vertuschung, Versagen, Tabuisierung von Rechtsterrorismus. Dazu die Frage: Wie können Tristesse und Aussichtslosigkeit Tore zu rechten Ideen öffnen? Filme, über die man reden muss, Kunst, die gesellschaftliche Verantwortung übernimmt.

Thomas Gehringer

Ärger: Bei jeder Gelegenheit alarmistisch aufzuheulen ist keine gute Idee. Aber angesichts der zunehmenden Angriffe auf die Meinungsfreiheit – auf Journalistinnen und Journalisten – muss man alarmiert sein. Die Blaupause für rechtsnationale Träume liefert der ungarische Regierungschef Viktor Orban, der unabhängige Medien ausgeschaltet hat. Wie da ein Politiker in einem EU-Land die Meinungsmacht unter Kontrolle bringt, ist ein warnendes, zu wenig beachtetes Lehrstück.

Freude: Über jedes gelungene Stück kritischen Journalismus: über die Recherche zu globalen Steuer-Schlupflöchern („Panama Papers“). Über die Grabungsarbeiten des ARD-Reporters Hajo Seppelt im Doping-Sumpf. Erfreulich häufig wurden aktuell-relevante Themen in öffentlich-rechtlichen TV-Filmen aufgegriffen: die Mordserie der NSU in „Mitten in Deutschland“ (ARD), der Zuzug von Flüchtlingen in „Der Andere“ (ZDF). Weiter so, ein paar Krimis weniger tun es auch.

Schuldig? Luftwaffenpilot Lars Koch (Florian David Fitz) stand nach dem Abschuss einer Passagiermaschine vor Gericht. „Terror – Ihr Urteil“, das TV-Publikum votierte für „nicht schuldig“.
Schuldig? Luftwaffenpilot Lars Koch (Florian David Fitz) stand nach dem Abschuss einer Passagiermaschine vor Gericht. „Terror – Ihr Urteil“, das TV-Publikum votierte für „nicht schuldig“.

© dpa

Tatjana Kerschbaumer

Ärger: Über die Kolumne „Fischer im Recht“ des Karlsruher Bundesrichters Thomas Fischer. Ein Rätsel, warum jemand eine journalistische Plattform bekommt, der den Journalismus, viele Journalisten offensichtlich nicht ausstehen kann. Solange sich Fischer mit juristischen Fragen beschäftigte, ging es noch. Seitdem er zu fachfremden Themen wie dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels seinen Senf dazugibt, ist er unlesbar: Selbstgerecht, geschwollen.

Freude: Das Projekt „Schmalbart“ von Christoph Kappes finde ich toll. Wenn das rechtspopulistische Medium „Breitbart News“ schon nach Deutschland expandiert, sollte man ihm auch einen Watchdog an die Seite stellen. Schön ist an „Schmalbart“ auch der Ansatz, in einfacher Sprache und ohne herablassende Haltung arbeiten zu wollen – hoffen wir, dass das klappt.

Joachim Huber

Ärger: Über alle Fake-News-Euphoriker, die aus dem unbestreitbaren Recht auf die eigene Meinung ihr bestreitbares Recht auf eigene Fakten ableiten. Selbst die gefühlte Temperatur ist nicht die tatsächliche Temperatur, sondern eben nur die gefühlte. Wenn Glauben Wissen ersetzt, wird Kommunikation zur Fake-Kommunikation. Kann man haben, muss man nicht haben. Der Kampf um die Fakten muss mit Entschlossenheit geführt werden.

Freude: „Terror – Ihr Urteil“, ein Event der ARD, die gezeigt hat, dass interaktives Fernsehen mehr Gesprächsstoff für die Gesellschaft liefern kann als jede Fußballübertragung. Relevantes Thema, brillantes Gerichtsfernsehen, Liveness der Abstimmung, Aufarbeitung im Talk – und der Zuschauer ist aus seiner Konsumentenhaltung herausgeholt. Sensation: Til Schweiger hat was sehr Richtiges gesagt. Er hat Jan Böhmermann „Vollspacko“ geschimpft.

Barbara Nolte

Ärger: Über Aussagen wie „Nichts wird mehr sein, wie es war“ nach negativen Ereignissen, wie zum Beispiel der Silvesternacht in Köln. Oder über den Satz „Die Welt ist aus den Fugen“, der Verhängnis in den Raum stellt, aber Unklarheit darüber lässt, warum die Situation heute bedrohlicher sein soll als zu Zeiten von Wettrüsten und Aids. Bleibt der Eindruck, dass diese Diagnosen nur dazu dienen, den eigenen Bericht bedeutsamer zu machen.

Freude: Eine kleine ZDF-Serie widerlegte den Gemeinplatz, dass nur Amerikaner gute Serien drehen können: „Morgen hör ich auf“. Plot: Bankrotter Familienvater, gespielt von Bastian Pastewka, wird aus Verzweiflung zum Geldfälscher, gerät ins kriminelle Milieu, wo er überraschendes Geschick beweist. Das Ganze ist mit hohem Tempo erzählt. Komisch, ohne auf Lacher aus zu sein.

Kurt Sagatz

Ärger: Es mag in bester Absicht geschehen sein, doch die Wirkung von Angela Merkels frühzeitiger Geißelung von Jan Böhmermanns Schmähgedicht im „Neo Magazin Royale“ war nicht hilfreich. Was angesichts der angeblichen „Majestätsbeleidigung“ zudem nicht vergessen werden sollte, ist die gelungene und juristisch wasserdichte „Extra3“-Parodie „Erdowie, Erdowo, Erdogan“. Gegen diese Kritik blieb der „Boss vom Bosporus“ machtlos.

Freude: Neuauflagen von Abenteuerklassikern haben im deutschen Fernsehen einen schweren Stand. Doch anders als bei der nur nachgedrehten „Schatzinsel“ von 2007 mit Tobias Moretti ist RTL mit dem Weihnachtsdreiteiler „Winnetou“ mit dem Albaner Nik Xhelilaj als Apachen-Häuptling eine echte Neuinterpretation des Karl-May-Stoffs gelungen. Und das oftmals an den gleichen Drehorten und zum bekannt-eingängigen Musikthema von Martin Böttcher.

Thilo Wydra

Ärger: Über die Berichterstattung im hiesigen Nachrichten-Fernsehen bei Terroranschlägen. Während bei CNN und BBC längst über Aktuellstes berichtet wird, mit Live-Interviews und Hintergrund-Analysen, läuft bei unseren Öffentlich-Rechtlichen noch „Rosamunde Pilcher“ oder „Tatort“ bis zum Abspann. Jüngstes Beispiel: Am 19. Dezember 2016 berichten CNN und BBC über den Anschlag am Berliner Breitscheidplatz, während im ZDF der Zweiteiler „Gotthard“ weiterläuft.

Freude: In all der Hektik unserer Zeit tut es gut, Peter Falk als „Columbo“ zu folgen (freitags im ZDF). „Columbo“ bedeutet: Entschleunigung im Trenchcoat. Philosophie mit Zigarre. Der Täter ist von Anfang an bekannt. Und bei alledem nicht „Hund“ vergessen, seinen loyalen, namenlosen Begleiter, einen stoischen Basset. Der steigert die Kontemplation: von „Columbo“, vom Zuschauer. Immerhin, 69 Folgen sind’s: „Sir, ich hätte da noch eine Frage, wirklich, eine allerletzte nur, Sir!“

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