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Zu PAPIER gebracht: Draußen ist es doch am schönsten

Na, hat sich die Winterdepression schon angeschlichen? Dieses bleierne Bedürfnis, sich nach einem gemütlichen Erdloch umzuschauen, in das man sich mit ein paar Haselnüssen zurückziehen und den März abwarten kann?

Von Anna Sauerbrey

Na, hat sich die Winterdepression schon angeschlichen? Dieses bleierne Bedürfnis, sich nach einem gemütlichen Erdloch umzuschauen, in das man sich mit ein paar Haselnüssen zurückziehen und den März abwarten kann? Schon die Leonard-Cohen-Platten rausgekramt? Yogi-Tee gekauft? Macht nichts. Denn für alle Bedürfnisse gibt es bekanntlich eine Lösung im Netz, neu im Angebot: Trost. Bevor Sie also viel Geld für die Sonnenbank oder einen schweren Barrique-Wein ausgeben, probieren Sie doch einmal „The Nicest Place on the Internet“. Wer die Seite aufruft, wird umarmt. „The Nicest Place“ besteht nur aus einem Youtube-Video, untermalt von einem melancholischen Song. Menschen kommen auf die Kamera zu, mit ausgebreiteten Armen. Näher, näher, noch näher. Dann wird es dunkel. Und dann ist es auch schon wieder vorbei.

Neulich, auf einer Tagung, diskutierten ein junger und ein älterer Politiker über die Begriffe „real“ und „virtuell“. Der Schlagabtausch war nicht besonders philosophisch, die beiden stiegen nicht gerade in die Abgründe der Erkenntnistheorie hinab. Es ging eigentlich vor allem darum, ob ein Besuch im Bierzelt eine andere Qualität hat, als auf Twitter „präsent“ zu sein und rund um die Uhr die Fragen seiner Follower, also der Wahlkreisbürger, zu beantworten. Der ältere Politiker meinte, wenig überraschend, das eine könne das andere nicht ersetzen. Der junge Politiker sagte, der Ältere habe ja gar nichts verstanden, schon gar nicht das Internet und es gebe keinen Unterschied mehr zwischen digitalen Kontakten und realen Kontakten. Er sagte das mit einer Inbrunst, die keinen Zweifel daran zuließ, dass er daran keine Zweifel hat.

Fest steht: Das Abbild der Welt im Netz wird immer vollständiger. Ganze Heerscharen von Webdesignern und Unternehmern arbeiten rund um die Uhr, rund um den Planeten daran, dass kein Aspekt der Welt ungespiegelt bleibt. Die neue Berliner Bar „Chez Icke“ (siehe Seite 19) zum Beispiel hat einen „Barvatar“, der einem den Besuch erspart, auf Befehl via Chat trinkt und tanzt. Es gibt Avatare von Städten, Kriegen, Sex und Gewalt. Man kann Fremde ansprechen, überrascht und überfallen werden, politisch indoktriniert und traumatisiert. Man kann reich werden und arm, rebellieren, sich beerdigen lassen und beichten. Was im Netz beginnt, setzt sich außerhalb fort, als Hochzeit, Ruhm oder Börsencrash.

Können sich Politiker den Besuch im Bierzelt also sparen? Ist die Grenze zwischen „real“ und „virtuell“ aufgehoben? „The Nicest Place“ ist der beste Beleg dafür, dass es nicht so ist. Wer sich eine Weile virtuell hat umarmen lassen, ist keineswegs getröstet, im Gegenteil. Nachdem man mehrfach hintereinander keine Wärme und keine Bartstoppeln gespürt, kein Parfum und keinen Schweiß gerochen, kein Atmen und nicht das Rascheln von Stoff gehört hat, schleicht die Winterdepression sich nicht mehr an. Sie schlägt zu. In echt.

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