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Zu PAPIER gebracht: Eines für alle

Ich war überrascht, das Internet im „Narkosestübchen“, zu treffen, meiner Absturzkneipe. Hier, wo Bier, Schnaps und Zigaretten in freundschaftlicher Kumpanei den physischen Ruin der Stammgäste betreiben.

Ich war überrascht, das Internet im „Narkosestübchen“, zu treffen, meiner Absturzkneipe. Hier, wo Bier, Schnaps und Zigaretten in freundschaftlicher Kumpanei den physischen Ruin der Stammgäste betreiben. Hier, wo das Scheitern zu Hause ist und das Schicksal seine Romane noch mit Tinte schreibt. Das Internet sah extrem unscheinbar aus, auch unscheinbar extrem, uralt und milchgesichtig zugleich, aber auf jeden Fall bekümmert. Zunächst verstand ich nicht, was es flüsterte. Das Internet trug eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpulli. Nach einiger Zeit gelang es mir, Bruchstücke seiner Suada zu entziffern.

„Ich soll immer ein anderer sein, ach, was sag ich, ich bin das Andere für alle und jeden. Jeder spreizt hier sein Ich, aber ich, ich weiß nicht mal, ob ich Ich sein kann. Ich muss jeden Tag fremdgehen, werde jeden Tag mit Wünschen bombardiert, so als ob ich der Weihnachtsmann wäre.“ Seufzer!

„In mir ist so viel Sex unterwegs, meinen Sie, ich komme dazu, selbst Sex zu haben? Ich bin über 20 und bin noch unberührt! Und Reisen? Gerne würde ich selbst etwas von der Welt sehen, aber ich bin blind vor Bilderwelten. Jeder meint, ich sei die Welt, jeder meint, ich sei seine Welt und vor so viel Weltdarstellung habe ich selbst noch nicht einmal eine Pauschalreise unternehmen können. Nicht mal Mallorca!“ Tiefer Seufzer.

Der Wirt kritzelte den zehnten Strich auf den Deckel des Internets. „Ich würde gerne mal Ferien von euch machen, aber die Menschen tun so, als könne niemand mehr ohne mich, als hätte es mich immer schon gegeben. Es gibt mittlerweile eine eigene Sparte des Abenteuerromans: Mein Leben ohne Internet! Die Typen lassen mich einen Monat links liegen und behaupten, sie hätten es ein Jahr ohne mich ausgehalten. Dann lesen sie ihre fünftausend Mails und schreiben anschließend ein Buch!“ Schmerzerfüllter Seufzer.

„Ich werde immer gehetzt, schneller, schneller soll ich sein, aber niemand vertritt meine Interessen. Ich hab noch nicht mal eine Freundschaftsanfrage bei Facebook! Jeder faselt von meiner Macht, die Welt zu verändern, Diktatoren zu stürzen, Demokratie zu stiften, aber niemand gibt mir eine Stimme, ein Geschlecht, eine Heimat, ein Selbst. Ich will Chancengleichheit.“ Schluchzen! „Ich würde so gerne schweigen. Stille! In ein Kloster gehen. Aber ich muss reden, reden.“

Der Wirt murmelte anerkennend: „Säuft wie ein Loch!“ Das Internet zahlte und ging.

Der Autor ist Schriftsteller und

Journalist.

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