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Apostel der Zerstörung. Michail Bakunin (1814-1876).

© picture-alliance / United Archiv

Michail Bakunin: Der erste Anarchist

Michail Bakunin akzeptierte gar keine Herrschaft, auch Karl Marx war ihm zu autoritär. Weshalb der 1814 geborene Revolutionär noch heute T-Shirts von Globalisierungsgegnern ziert.

Als im September 1867 der Friedenskongress von Genf endet, tritt ein zutiefst verstörter Fjodor Dostojewski die Heimreise nach Russland an. In einem Brief schildert der Schriftsteller einer Bekannten die Gründe für seinen zerrütteten Seelenzustand: Er habe in Genf, schreibt er, zum ersten Mal die exilierten russischen Sozialisten und Revolutionäre sprechen hören, Männer, „die ich bisher nur aus Büchern kannte“. Was diese aus Russland nach Europa geflohenen Umstürzler ihrem Publikum zugemutet hätten, sei „unglaublich“ gewesen, klagt Dostojewski: „Sie wollen, um den Frieden auf Erden zu erlangen, den christlichen Glauben ausrotten, die großen Staaten vernichten und in kleine Staaten aufteilen, alles Kapital abschaffen, alle Güter zum gemeinsamen Besitz erklären usw. ... Erst wenn alles mit Feuer und Schwert ausgerottet ist, wird, wie sie glauben, der ewige Friede eintreten.“

Ein Redner im Besonderen ist es, den Dostojewski als Inbegriff fehlgeleiteter Revolutionsideale in Erinnerung behalten wird: Michail Bakunin, ein vollbärtiger Koloss von einem Mann, der in Genf mit einer leidenschaftlichen Brandrede für die Revolution wirbt. Als Dostojewski sechs Jahre nach der Begegnung „Die Dämonen“ veröffentlicht, seinen Roman über einen Geheimbund russischer Revolutionäre, lässt er als deren Chefideologen den wirrköpfigen Philosophen Schigalew auftreten, in dem Zeitgenossen sofort eine Karikatur Bakunins erkennen. „Alle sind Sklaven und in diesem Sklavenzustande untereinander gleich“, so beschreibt im Roman ein begeisterter Mitstreiter die Zukunftsvision Schigalews. „Die höher Begabten haben immer die Macht an sich gerissen und sind Despoten gewesen; die werden vertrieben oder hingerichtet. Einem Cicero wird die Zunge ausgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen, ein Shakespeare wird gesteinigt: da haben Sie den Schigalewismus! Wir werden die Trunksucht, die Klatscherei, das Denunziantentum befördern; wir werden eine unerhörte Demoralisation hervorrufen; wir werden jedes Genie im Säuglingsalter ersticken.“

Dostojewski war keineswegs der einzige Zeitgenosse, der Bakunin dämonisierte – der Berufsrevolutionär wurde als „Satan der Revolte“, als „Apostel der Zerstörung“ tituliert. Anderen wiederum galt er als Hoffnungsträger eines antiautoritären, nicht von oben verordneten, sondern von unten aufgebauten Kommunismus, als den ihn manche noch heute sehen wollen. Wer war er wirklich, dieser Michail Alexandrowitsch Bakunin, der im dauerrevoltierenden Europa der 1840er Jahre auf allen Barrikaden mitkämpfte, der im Streit mit Karl Marx den Anarchismus erfand, der den „Geist der Zerstörung“ pries und dafür jahrelang in den Kerkern des Zaren schmorte, um schließlich in einer spektakulären Flucht den Erdball zu umrunden und erneut Europa heimzusuchen?

Geboren wurde er vor 200 Jahren, am 30. Mai 1814, zu einer Zeit, als in Russland noch wenig zu spüren war von den neuen Klassengegensätzen der Industrialisierung, die zeitgleich in Europa die Entstehung des kommunistischen Gedankens beflügelten. Im landwirtschaftlich geprägten Zarenreich dominierte noch der viel ältere Gegensatz zwischen adeligen Grundbesitzern und leibeigenen Bauern – bis zur Befreiung der Letzteren sollte zum Zeitpunkt von Bakunins Geburt noch fast ein halbes Jahrhundert vergehen.

Sein Vater unterhielt ein Gut in der westrussischen Provinzregion Twer, der Familie gehörten 500 Leibeigene. Obwohl die Bakunins damit zum bessergestellten Teil des Landadels gehörten, war dem Vater bewusst, dass nicht alle seiner zehn Kinder von den Einkünften des Guts würden leben können. Michail, den Drittältesten, schickte er deshalb mit 14 Jahren auf die Artillerieschule von Sankt Petersburg, er soll Berufsoffizier werden.

Es war nicht die glücklichste Karrierewahl. In den Briefen an die Familie klagt der junge Bakunin zunehmend über den Geist der Unfreiheit, der in den russischen Kasernen herrscht – seit der Niederschlagung des „Dekabristenaufstands“ von 1825 setzt Zar Nikolaj I. alles daran, seine autokratische Macht zu festigen. Als Bakunin schließlich als 18-jähriger Leutnant zur Unterdrückung des polnischen Aufstands von 1832 ausrücken muss, beschließt er, die Armeelaufbahn zu beenden. Eine Weile schlägt er sich als Mathematiklehrer in Moskau durch, später beginnt er ein Philosophiestudium, das ihn mit zahlreichen kritischen Denkern der Nikolaj-Ära in Kontakt bringt.

Seine Politisierung gewinnt jedoch erst richtig an Schärfe, als Bakunin zur Vorbereitung auf eine Moskauer Professorenstelle nach Berlin übersiedelt. Er liest Kant, Fichte, vor allem Hegel, mit dessen linksbewegten deutschen Anhängern er bald engen Umgang pflegt: Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach, Georg Herwegh. Keine zwei Jahre nach der Ankunft in Berlin teilt Bakunin seinem älteren Bruder mit, dass er nicht nach Russland zurückkehren werde – im Unterschied zu den immer noch stark metaphysisch geprägten Denkerzirkeln seiner Heimat fühlt er sich in Deutschland umgeben von einer ganzen Klasse politisierter Philosophen, er selbst entwickelt sich in Berlin vom Freiheitsromantiker zum handelnden Revolutionär.

Mit seinen ersten agitatorischen Auftritten beginnt allerdings auch die Obrigkeit auf ihn aufmerksam zu werden – was dazu führt, dass Bakunin in den kommenden Jahren quasi permanent auf der Flucht lebt. Als ihm die Lage in Deutschland zu brenzlig wird, siedelt er zusammen mit ein paar deutschen Junghegelianern zunächst in die Schweiz über. Auch dort gerät er bald ins Visier der Behörden und flieht weiter nach Brüssel, dann nach Paris, wo er dem ebenfalls exilierten Karl Marx begegnet. Weil in der Zwischenzeit seine revolutionären Umtriebe auch russischen Diplomaten in Europa zu Ohren gekommen sind, wird Bakunin auf Anweisung des Zaren in Abwesenheit zum Verlust von Adelstitel, Hab und Gut sowie zur Verbannung nach Sibirien verurteilt.

Unbeeindruckt versucht er in Paris, polnische Exilanten zum Aufstand gegen den Zaren anzustacheln, woraufhin der russische Botschafter erfolgreich auf seine Ausweisung aus Frankreich drängt. Gleichzeitig setzt der Mann gezielt das Gerücht in Umlauf, Bakunin sei in Wirklichkeit ein Spion und bezahlter Provokateur des Zaren – eine Verschwörungstheorie, die sich einige Jahre später Karl Marx zunutze machen wird, um seinen unliebsamen Konkurrenten zu diskreditieren. Vorerst aber sind die beiden Männer, die sich nach ihrer Flucht aus Paris in Brüssel wiederbegegnen, noch gute Freunde und revolutionäre Kampfgenossen.

Als kurz darauf in Paris die Februarrevolution von 1848 siegt, kehrt Bakunin sofort nach Frankreich zurück und hält feurige Reden auf den Barrikaden. Weil er dabei schon jenen kompromisslosen Widerstand gegen jede Form von Herrschaft predigt, für den er einmal berühmt werden soll, sagt später der Pariser Übergangskommandant Marc Caussidière über Bakunin: „Am ersten Tag der Revolution ist er ein Juwel, am zweiten muss man ihn einfach erschießen.“

So ist die französische Provisionsregierung nicht unglücklich, als Bakunin darum bittet, die Revolution gen Osten tragen zu dürfen. Man stattet ihn mit 2000 Francs und zwei falschen Pässen aus, Bakunin macht sich auf den Weg ins polnische Posen. Bereits vor seiner Ankunft wird der dortige Aufstand allerdings niedergeschlagen. Inzwischen aber hat die Revolutionswelle der Jahre 1848/49 halb Mitteleuropa erfasst, weshalb der nimmermüde Bakunin gleich weiterreist nach Prag, ins nächste Krisengebiet. Er ruft die slawischen Völker zum vereinten Widerstand gegen ihre Unterdrücker auf, bevor die Niederschlagung des tschechischen Studentenaufstands ihn zur Flucht zwingt.

Breslau, Berlin und Anhalt sind die nächsten Stationen seiner Revolutions-Odyssee, deren vorläufiger Endpunkt Dresden wird. Bakunin steigt beim dortigen Aufstand von 1849 zum Militärkommandanten auf – und flieht, als die Erhebung scheitert, nach Chemnitz. Noch in derselben Nacht wird der schlafende Revolutionär im Hotel „Zum blauen Engel“ von Chemnitzer Bürgern festgenommen, die auf das vom Zaren ausgesetzte Kopfgeld von 10 000 Silberrubeln hoffen. Bakunin landet im Dresdner Gefängnis, wird im Januar 1850 zum Tode verurteilt, später zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt und an Österreich-Ungarn ausgeliefert. In Ketten schmiedet man ihn an die Mauer des Gefängnisses von Olmütz.

Im Mai 1851 überstellt man ihn schließlich nach Russland, wo er ein komplettes Jahrzehnt in Gefangenschaft verbringt, die ersten sechs Jahre in den Kerkern von Sankt Petersburg, den Rest der Zeit, nach seiner Begnadigung durch Nikolajs Nachfolger Alexander II., in sibirischer Verbannung. Von dort gelingt ihm 1861 eine spektakuläre Flucht: Zu Fuß schlägt er sich an die sibirische Pazifikküste durch, per Schiff gelangt er nach Japan und weiter nach San Francisco, um schließlich, nach einer kompletten Erdumrundung, im Dezember 1861 wieder europäischen Boden zu betreten.

Sofort macht sich der zehn Jahre lang verschwundene Bakunin wieder ans revolutionäre Werk. In London gibt er mit Alexander Herzen das Emigranten-Journal „Die Glocke“ heraus, in Locarno verfasst er mit dem radikalen Nihilisten Sergej Netschajew den legendären „Revolutionskatechismus“. Wenig später ruft er in Italien eine Arbeitervereinigung ins Leben, die zum italienischen Vorläufer der zeitgleich von Marx gegründeten „Internationalen Arbeiterassoziation“ wird – heute besser bekannt als „Erste Internationale“, die Keimzelle der weltweiten kommunistischen Bewegung, in deren Führungsriege auch Bakunin ab 1868 aktiv ist.

Eben in diese Zeit fällt die Zuspitzung seiner anarchistischen Thesen. Während Marx von einer Weltrevolution träumt, die ein zentralistisch organisiertes Führungsteam von Berufsrevolutionären ins Werk setzen soll, wendet sich Bakunin nun gegen jede Form von Herrschaft, sei sie autokratischer, parlamentarischer oder revolutionärer Natur. „Wir weisen“, schreibt er in seinem Hauptwerk „Gott und der Staat“, „alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten.“ Warum ihm auch die Vorstellung einer „Diktatur des Proletariats“ nicht behagt, erklärt Bakunin in „Staatlichkeit und Anarchie“, direkt an Marx gewendet: „Sie behaupten, dass ein solches staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei. Wir dagegen behaupten, dass Freiheit nur durch Freiheit geschaffen werden kann.“

Die ideologische Auseinandersetzung zwischen beiden Männern spitzt sich zu, bis es 1872 zum Bruch kommt. Beim Haager Kongress der Arbeiterassoziation wird Bakunin auf Marx’ Drängen aus der Organisation ausgeschlossen. Die offizielle Begründung: Bildung einer Fraktion „mit Statuten, die denen der Internationale schnurstracks zuwiderlaufen“. Es ist die erste ideologische Spaltung der Arbeiterbewegung: Noch bevor der Sozialismus Ende des 19. Jahrhunderts in einen reformerisch-sozialdemokratischen und einen revolutionär-kommunistischen Flügel zerfällt, gehen Marxisten und Anarchisten getrennte Wege.

Als die einflussreichere Strömung erweist sich langfristig der Marxismus: Bakunins Landsmann Lenin, der 1917 die erste erfolgreiche Arbeiterrevolution durchsetzt, verlässt sich nicht auf die spontane Selbstorganisation der Massen, sondern auf einen diktatorisch regierenden Führungszirkel. Die bekannten, traumatischen Kollateralschäden dieses Sieges sind es, die Bakunin in der Folge zu einer Art Gegenidol enttäuschter Kommunisten werden ließen: Wie man in Trotzki gerne den besseren Lenin sieht, sieht man in Bakunin den besseren Marx. Hierher rührte seine Popularität in der Studentenbewegung von 1968, hierher auch Bakunins heutige Gastauftritte auf den T-Shirts von Globalisierungsgegnern.

Bakunin selbst erkrankte bald nach seinem Ausschluss aus der Arbeiterassoziation an einem Nierenleiden, das ihn für den kurzen Rest seines Lebens handlungsunfähig machte. 1874 begab er sich noch einmal auf den Weg zu einem Aufstand in Bologna, nicht mehr aus Kampfeslust, sondern allein, „um auf den Barrikaden zu sterben“. Der Aufstand jedoch wurde bereits in der Vorbereitung erstickt. Bakunin starb an Nierenversagen, 1876, in Bern.

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