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Der große Treck. Stillstand auf der Migrationsroute zwischen Süd- und Nordamerika – auch viele Menschen aus Afrika sind hier unterwegs.

© Jorge Cabrera, Reuters

Migration in Mexiko: Sie nennen sie "Mama Afrika"

In ihrem Restaurant in Südmexiko kochte Etelvina Hernández Lopez vertrautes Essen für afrikanische Migranten auf dem Weg nach Norden. Dann kam Corona.

Mama Afrika heißt nicht Mama Afrika, sie heißt Etelvina Hernández Lopez, doch unter diesem Namen kennt sie hier, in der Stadt Tapachula im Süden Mexikos, 20 Kilometer von der Grenze zu Guatemala entfernt, kaum jemand.

Es ist mittags, sie läuft kauend den Gang zwischen Küche und Gastraum entlang, von einem der Tische kommt ein junger Mann mit drei 20-Pesos-Scheinen auf sie zugelaufen. Er will zahlen, auf Englisch fragt er nach dem Preis. „Cincuenta“, sagt Mama Afrika, hält fünf Finger in die Luft, ihr Sohn drängt sich schwitzend an den beiden vorbei, die Arme beladen mit Curry, gebratenen Fischen, Reis, Huhn und Rind. Es ist Februar.

Mama Afrika, 53 Jahre alt, die Gäste haben Etelvina Hernández Lopez so getauft. Sie sagt, damals im Februar: „Diejenigen, die schon in den USA sind, erzählen Familienmitgliedern, die die Reise noch vor sich haben, von mir und dass sie hier essen gehen sollen“. Diejenigen, die schon in den USA sind, sind illegale Einwanderer dort, die Glücklichen aus dem großen Treck von Süd- nach Nordamerika, die angekommen sind am Ziel ihrer Reise.

Der Treck, den es seit vielen Jahren als kaum wahrnehmbare Marschroute einiger weniger gibt, angeschwollen im Oktober 2018 auf mehrere Tausend Migrantinnen und Migranten, von denen im November jenes Jahres bereits 2000 kurz vorm kalifornischen San Diego – im mexikanischen Tijuana – angekommen waren, steht längst still. 2019 setzten die USA ihr Asylrecht weitgehend außer Kraft, das Überwinden der letzten, der nördlichsten Grenze zwischen Mexiko und „Amerika“ ist seitdem nahezu sinnlos geworden. Dann kam Corona.

Seitdem sind auch Ländergrenzen weiter südlich geschlossen, und die Bewohner der Durchreiseländer sind argwöhnischer als zuvor.

Die Migrationsrouten der Zukunft

Mama Afrikas rosarote Bluse ist verschwitzt, sie redet gegen das Stimmengewirr an: „Ich verkaufe seit 14 Jahren Essen, aber vor acht Jahren, als die Migranten kamen, habe ich gelernt, wie sie zu kochen.“

Menschen, die es nach Nordamerika zieht statt nach Mittel- und Nordeuropa. Wer bei Mama Afrika im Februar essen ging, bekam womöglich ein Gefühl für die Migrationsrouten der Zukunft. Wer heute aus der Ferne im Restaurant nachfragt – ein Besuch ist nicht mehr möglich –, vielleicht erst recht.

Coronabedingt geschlossen. Etelvina Hernández Lopez alias „Mama Afrika“ in ihrem Restaurant im südmexikanischen Tapachula.
Coronabedingt geschlossen. Etelvina Hernández Lopez alias „Mama Afrika“ in ihrem Restaurant im südmexikanischen Tapachula.

© Pola Kapuste

Dass bei Mama Afrika Curry serviert wurde, lag möglicherweise auch an den Außengrenzen der Europäischen Union. Die europäische Migrationspolitik, die sich in den vergangenen fünf Jahren verschärft hat, könnte auch dazu geführt haben, dass eine wachsende Zahl Afrikanerinnen und Afrikaner den Weg durch Süd- und Zentralamerika wählte, um in den USA nach einer besseren Zukunft zu suchen.

Statistiken der Regierung Panamas zeigen, dass ihre Zahl von 257 im Jahr 2014 auf 1326 im Jahr 2015 stieg. 2019 waren es mehr als 5100 Menschen aus Afrika, die Panama auf ihrem Weg nach Norden passierten.

Mama Afrika weiß nicht viel über die Außenpolitik der Europäischen Union. Sie kümmerte sich ums Essen, und wenn es einem ihrer Gäste schlecht ging, vermittelte sie einen Arzt. Nun aber, wie bei allen Geschäftsmodellen, die an der Reiselust anderer oder deren Willen zum Einwandern in andere Länder hängen, bedeuten die Corona-Folgen für die Köchin Stillstand. Ihr Restaurant ist geschlossen, wie fast alles in Tapachula.

Mit einem Somali ging sie über den Markt, dann an den Herd

Am Tag des Februarbesuchs ist sie krank. Trotzdem dirigiert die kleine Frau mit dem angegrauten Haar das Treiben in der Hitze ihres Restaurants mit der Gelassenheit einer hundert Jahre alten Schildkröte. Sie hat sich auf einen weißen Plastikstuhl gesetzt, am Tisch vorm Gang zur Küche.

„Zuerst bin ich mit einem Somali über den Markt gegangen“, sagte sie, „und dann an den Herd. Dann hat mir ein Mann aus Bangladesch gezeigt, wie man Curry zubereitet.“ Ein Teller kostet 50 Pesos, das sind 2,50 Euro. Wer möchte, bekommt Bohnen. Mama Afrika saß, erzählte und schwitzte, wie alle anderen auch.

Sie sei keine Hilfsorganisation, betonte sie plötzlich mit fester Stimme. „Ich bin nur abhängig von Gott und den Menschen, die zum Essen kommen“, man müsse schließlich auch irgendwie seine Miete bezahlen.

Es kommt aber nun keiner mehr. Enrique Vidal Olascoaga von der Hilfsorganisation Frey Matias spricht von einem Einbruch der Zahlen von schätzungsweise 90 bis 95 Prozent. In Panama stauen sich angeblich 2500 Migranten an der nördlichen Grenze zu Costa Rica.

Die Grenzkontrollen wurden verschärft, nachdem einige Migranten aus einem mit 1900 Menschen belegten Internierungslager ausgebrochen waren. Es sei, teilte die Grenzbehörde mit, nun unmöglich, nach Costa Rica zu gelangen.

"Wir sind schon unterwegs"

In Honduras wurde eine Gruppe von 78 Menschen aus Afrika, Kuba und Haiti von den Einwanderungsbehörden festgenommen. Eine andere Gruppe von mindestens 20 Menschen machte sich auf den Weg in die Hauptstadt Tegucigalpa, sie forderten, nach Guatemala weiterreisen zu können. Ein Kubaner sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Wir sind schon unterwegs, wir wollen die Grenze zu Guatemala erreichen und dann – zumindest für den Moment – nach Mexiko gehen, bis sich die Situation in den USA verbessert hat“. Das Angebot der honduranischen Regierung, ihm und seinen Begleitern bei der Rückkehr in ihre Heimatländer zu helfen, lehnte er ab.

Es ist, als habe jemand Dominosteine zwischen die kontinuierlich nach Norden strömenden Menschen gestellt. Plötzlich häufen sie sich an den jeweiligen nördlichen Grenzen des Landes, das sie gerade passieren wollten. Dazu kommt, dass in Mexiko am 21. März die landesweiten Aufnahmezentren für Migranten geräumt wurden. Vor allem Zentralamerikaner wurden in ihre Herkunftsländer abgeschoben.

In Mexiko werden sie – nach allem, was aus der Ferne herauszufinden ist – stigmatisiert. Als Reisende gelten sie als Virusüberträger. In Honduras musste ein Rückführungslager für Migranten schließen, weil Einheimische sich gegen ihre Aufnahme wehrten.

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Wenn Mexiko kein Abkommen mit dem Herkunftsland der Durchreisenden hat oder sie einen Aufenthaltsstatus oder ein Familienmitglied in Mexiko haben, können sie nicht abgeschoben werden und landen für gewöhnlich auf der Straße. Die Bearbeitung von Anträgen auf Aufenthaltsrecht pausiert, Hilfsorganisationen haben geschlossen, die Tafeln geben kein Essen mehr aus und die, die ihnen sonst ein Zimmer gaben, haben oft zu viel Angst vor Covid-19, um ihnen eines zu vermieten.

Rattenkot? Nein, die Blüte vom Oregano!

Ein Mann aus Bangladesch unterbrach damals Mama Afrika und hielt ihr eine Serviette unter die Nase. Darauf lag etwas, das wie eine Fliege aussah. „Chicken“, rief er. Mama Afrika deutete stumm in die Küche. Soll sich die Schwiegertochter am Herd darum kümmern, was im Huhn gelandet ist. Als er weg ist, sagt sie lächelnd: „Das ist vom Oregano. Ich dachte auch einmal, es wäre Rattenkot im Essen, doch es ist die Blüte vom Oregano.“

Auf dem Weg nach Norden. Adama Adiaffi (links), Ismael Koffi (3.v.l.) und Samuel Calier (4.v.l.) wollten eigentlich in die USA. Jetzt müssen sie sich umorientieren.
Auf dem Weg nach Norden. Adama Adiaffi (links), Ismael Koffi (3.v.l.) und Samuel Calier (4.v.l.) wollten eigentlich in die USA. Jetzt müssen sie sich umorientieren.

© Pola Kapuste

Ismael Koffi*, 21, und Samuel Calier*, 25, saßen am Tisch. Ismael Koffi ist klein und muskulös, er spricht ein wenig Portugiesisch und Französisch. Samuel Calier ist groß und drahtig, redet laut und viel auf Kreol und Spanisch. Sie hätten sich in Kolumbien kennengelernt, sagen die beiden. Zwischen Tapachula und Kolumbien liegen sechs Ländergrenzen.

Ismael Koffi erzählt, dass er Westafrika, die Elfenbeinküste, zwei Jahre zuvor mit seiner Mutter und seinem neunjährigen Halbbruder im Flugzeug Richtung Brasilien verlassen habe. Der Vater des Halbbruders habe es geschafft, er sei in den USA und wolle die Familie nachholen.

Koffi aber habe sich, damals schon, entschlossen, in Mexiko zu bleiben, sagt er leise, die Augen auf die klebrige Plastiktischdecke vor ihm gerichtet. Auf der Reise habe er sich in ein Mädchen aus Honduras verliebt, sie sei jetzt in Monterrey, im Norden Mexikos. Er warte nur noch auf Papiere, die ihm erlauben, sich frei in Mexiko zu bewegen, um dann weiter nach Norden zu fahren.

Samuel Calier, der Laute, schildert, wie er seine Heimat Haiti 2017 Richtung Chile verlassen habe. Die zurückliegenden zwei Jahre seien gut gewesen dort, doch dann habe er beschlossen, weiter nach Norden zu gehen. Enrique Vidal Olascoaga, der Mann von der Hilfsorganisation, spricht von bis zu fünf Jahren, die viele der Afrikaner unterwegs waren, wenn sie in Mexiko ankamen.

Die meisten Einwanderer kommen mit dem Flugzeug

Die Geschichten der Reise durch den Süden, über Brasilien oder Chile, Peru und Ecuador hörten sich immer ähnlich an: von Grenze zu Grenze in Bussen für je 30 Dollar, und dann warte an jeder Grenze ein Polizist auf seinen Anteil.

In Ecuador landeten die meisten Einwanderer aus Afrika in Flugzeugen, das Land verlangt keine Visa. Normalerweise geht es von dort aus weiter nach Kolumbien. Und dann kommt El Darién, ein Regenwaldgebiet im Nordwesten Kolumbiens und Südosten Panamas.

Ismael Koffi und Samuel Calier erzählten, dass sie mit 41 anderen sieben Tage lang durch diesen Dschungel gelaufen seien. Samuel Calier sagte: „Wenn du deinem Schlepper nicht genug zahlst, zeigt er dir nicht den Weg nach Panama, sondern den zu seinen Freunden, die dich überfallen und verschwinden lassen.“

Er habe es sich auf dem Weg zur Aufgabe gemacht, seine Gruppe zu beschützen, in Chile habe er Karate und Boxen gelernt und wie man mit einer Machete umgeht. Im Dschungel habe er die ganze Nacht Joints geraucht, aber nicht geschlafen. Koffi nickte andächtig. „Wir hatten Bohnen, Reis, Butter und Kekse dabei. Auf halber Strecke ist uns das Essen ausgegangen.“ Am achten Tag seien sie am Panamakanal angekommen.

Calier sagt: „Im ersten Lager nach dem Dschungel gab es weder Essen noch Salbe für die zerschnittenen Füße. Nur schreiende Frauen, die sich freuten, weil sie überlebt hatten, aber weinten, weil immer noch kein besseres Leben in Sicht war.“ Ismael Koffi: „Wer es nicht ins erste Camp geschafft hat, den wird man nie wiedersehen.“

Corona? Nur eine weitere Hürde

Enrique Vidal Olascoaga bestätigt, dass viele der Menschen, die Unterstützung bei der Hilfsorganisation Frey Matias suchen, ein Familienmitglied im Darién verloren haben und dessen Leiche im Dschungel zurücklassen mussten.

Koffi, der Mann von der Elfenbeinküste, wirkte stolz damals. Ein junger Mann, der mit all dem, was ihm widerfahren zu sein schien, und dem, was er in Tapachula erlebte, nichts zu tun haben wollte. Weder mit seinen Erinnerungen noch mit der Gegenwart, in der er auf die Hilfe und den guten Willen anderer angewiesen war. Seine Kleidung, dieser Ort seien ihm unangenehm. „Vor dem Dschungel“, sagte er, „da sahen wir noch besser aus.“

Er ist mittlerweile in Monterrey angekommen, habe seine Aufenthaltserlaubnis. „Dem geht’s gut, wir sprechen fast täglich“, sagt Samuel Calier am Telefon. „Er sagt mir immer, ich solle nach Monterrey kommen.“ Doch er wolle erst einmal Mexikos Pyramiden sehen und in der Tourismusbranche arbeiten. Für ihn sei Corona nur eine weitere Hürde, die er überwinden müsse, nichts, was ihn aus der Ruhe bringen würde.

Fünf Brötchen und drei Päckchen Brausepulver

Calier und Koffi standen auf von ihren Stühlen bei Mama Afrika, damals im Februar, zahlten und gingen zur Casa Afrika. Ein Haus zwei Straßen vom Restaurant entfernt, in dem Afrikaner wohnen. Damals schon so lange sesshaft in Mexiko, dass sie einkaufen gingen, in der Casa aßen, selber kochten. Afrikaner, die früher vielleicht zu Mama Afrika ins Restaurant gekommen wären.

Einer von ihnen ist Adama Adiaffi*, auch er stamme aus der Elfenbeinküste, sagte er. Er sei 40 Jahre alt.

Er bekäme drei Wochen später Aufenthaltspapiere für Mexiko, dann möchte er im Norden Arbeit finden, hier in Tapachula sei es aussichtslos. Er denke, nach zwei Monaten genug Geld verdient zu haben, um seiner Frau und seinem Sohn den Flug nach Mexiko bezahlen zu können. Dann wollten sie zu dritt über die Grenze in die USA.

Adama Adiaffi aß weder bei Mama Afrika noch in der Casa. Er lief später zum Supermarkt und kaufte fünf Brötchen und drei Brausepulverpäckchen. Ein bisschen Tomatensoße habe er noch zu Hause. Wann er das letzte Mal wie daheim gegessen hat, wisse er nicht mehr.

*Die Namen der Migranten wurden auf deren Wunsch geändert.

Pola Kapuste

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