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Gesellschaft: Mit den Rosinen kam das Papier

Die Not der frühen Jahre: Der Tagesspiegel im ersten Jahrzehnt

Die Gründung eines Unternehmens, zumal einer Zeitung, unter ein verheißungsvolles Motto zu stellen, ist stets zu begrüßen. Der neue Tagesspiegel freilich hatte dergleichen nicht zu bieten, jedenfalls noch nicht am 27. September 1945. Erst zum Jahreswechsel drei Monate später wurde das auf Vergil zurückgehende „Rerum cognoscere causas – den Dingen auf den Grund gehen“ der Leitsatz dieses Blattes, das sich damit ausdrücklich eine aufklärerische, die Gesellschaft mitgestaltende Rolle zuwies. Das prägte schon am Anfang die redaktionelle Arbeit im Großen wie im Kleinen, sei es, dass den Prozessen gegen die ehemaligen NaziFührer und ihre Schergen überdurchschnittlich viel Raum zugebilligt wurde, sei es, dass sich das Blatt für das Verschwinden der „unschönen und unleserlichen Fraktur an den U-Bahnhöfen“ einsetzte – übrigens mit Erfolg: Neue Inschriften, so versicherte die BVG damals, würden nur noch in der modernen Antiqua-Schrift erstellt.

Zugegeben, Hinweisschilder sind ein banales Wirkungsfeld, bedenkt man die existenziellen Probleme, die die geschundene Stadt Berlin im ersten Jahrzehnt nach der Tagesspiegel-Gründung quälten und die auch die Arbeit der Redaktion massiv behinderten. Zu den Gütern, die die Alliierten während der Luftbrücke in die eingesperrte Stadt fliegen mussten, gehörte auch Zeitungspapier, während die Rosinenbomber auf dem Weg zurück Tagesspiegel-Matern nach Frankfurt mitnahmen, damit dort eine Fernausgabe gedruckt werden konnte. Und die dramatische Teilung der Stadt, in der die zunehmende Vereisung zwischen den Systemen hautnah erlebbar wurde, führte auch zur Verschleppung eines Tagesspiegel-Reporters im Jahr 1948 aus dem Neuen Stadthaus, wo er über die Sprengung der Stadtverordnetenversammlung durch kommunistische „Demonstranten“ berichten sollte. Erst sieben Jahre später kehrte er aus einem sibirischen Straflager zurück.

Diese traurige Episode aus dem ersten Tagesspiegel-Jahrzehnt wird auf den folgenden Seiten ebenso erzählt wie die tastenden Versuche des Blattes, auch dem Foto Raum zu bieten, nicht allein zum Zwecke der eigenen Verschönerung, sondern wiederum mit pädagogischem Anspruch – um die Vielfalt der Welt zu zeigen, die in den Jahren der NS-Diktatur ausgeblendet worden war. In der Anfangszeit musste der Leser des Tagesspiegels auch noch fast ohne Lokalnachrichten auskommen: Damals war es eine Zeitung aus Berlin, nicht speziell für Berlin. Was nicht ausschließt, dass über das erste Avus-Rennen der Nachkriegszeit 1951 ausführlich und mit Pathos berichtet wurde. Mit dem Vergil’schen Leitsatz war das, nun ja, nicht ganz vereinbar. Aber solch ein Wettbewerb galt nun mal nicht allein als Sportereignis, sondern wurde als Symptom gedeutet für die Rückkehr der Normalität, als ein Funke Hoffnung im Dunkel der Nachkriegszeit.

Resignation und Selbstmitleid scheinen damals ohnehin nicht sehr verbreitet gewesen zu sein. Keiner verkörpert das trotzige Beharren, das unermüdliche Kämpfen um die Zukunft der Stadt besser als Ernst Reuter, die alles überstrahlende Lichtgestalt jener Jahre, der wie kaum ein anderer die Bedingungen prägte, unter denen die West-Berliner Zeitungen damals ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen konnten. ac

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