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Ich war eine Europalette: Designermöbel von Kimidori im Kreuzberger Lager des Online-Shops.

© Kimidori/Stefan Kühne

Möbel-Upcycling: Alles paletti!

Aus weit gereistem Holz werden Tische, Regale oder sogar ganze Häuser gemacht. Ein typisches Beispiel für den Trend zum „Upcycling“.

Im Streatwear- und Sneakerladen KICKZ in Mitte herrscht Lagerhallen-Atmosphäre. Nicht in Regalen oder auf Kleiderstangen, sondern auf weiß gestrichenen Palettenstapeln wird die neue Hosen-, T-Shirt- und Uhrenkollektion präsentiert. An den Ecken blitzt hier und da dreckiges Braun durch. Auch an den Wänden liegt Palette auf Palette, bis zur Decke. In den Zwischenräumen glänzen Markenturnschuhe. Der Kontrast zwischen alten Holzkonstruktionen und teuren Klamotten ist ein gewollter Stilbruch.

Holzpaletten sorgen auch im beliebten koreanischen Restaurant Kimchi Princess in Kreuzberg für den erwünschten Industrielook. Dort werden alte Holzpaletten zu Sitzbänken umfunktioniert.

„Das ist die typische Berlin-Masche, unprätentiös, casual“, sagt Designer Werner Aisslinger. „Gerade für Pop-up-Stores, die nach kurzer Zeit wieder wegziehen, ist die simple Einrichtung auch günstig und praktisch.“

Von Aisslinger stammt das Einrichtungskonzept des Ende Januar eröffneten Designerhotels 25hours am Bahnhof Zoo. Schon am Eingang ragt ein Schreibtisch aus Europaletten mit Laptop und Leselampe aus dem Kofferraum eines alten Minis. Im Konferenz- und Veranstaltungsraum des Hotels ist eine Wand mit Europaletten bepflastert, in denen Pflanzen und Kräuter wachsen. Garten-Atmosphäre mitten in der Großstadt. „Wir wollten die Stadt ins Hotel holen und den Charme des Unfertigen transportieren“, so Aisslinger. „Deshalb haben wir Paletten verwendet, die wir auf der benachbarten Baustelle gefunden haben.“

Johann Gartlinger hat sein Baumaterial in einem Industriegebiet in Friedrichshain entdeckt. Die Sache war ganz einfach: Der Student der Philosophie und Sozialwissenschaft hatte gerade seine kleine Einzimmerwohnung bezogen und brauchte dringend einen Tisch. Also baute er sich einen. Die unterste der vier Paletten schraubte er auf Industrierollen, die oberste blieb als Tischfläche intakt – nachdem er sie abgeschliffen hatte, damit das Holz nicht mehr so rau und abgeschrabbelt war –, während er in die anderen drei Löcher sägte, um Platz für seine Beine zu haben. Ein Tag, und der Tisch war fertig.

Anfangs ist ihm dauernd was durch die Lücken zwischen den Brettern geflutscht, aber das passiert ihm inzwischen nur noch selten. Hergeben möchte er den Tisch nicht mehr. Wobei es nicht allein der Preis ist, der ihn für Gartlinger so reizvoll macht, sondern der Spaß am Selberbauen, der Stolz – „und dass es was Besonderes ist“. Dass er in seiner Studentenbude ein Unikat stehen hat, das ein anderer nicht einfach so im Laden kaufen kann.

Früher zimmerten Studenten sich Betten aus alten Wein- oder Obstkisten, heute ersetzt die Europalette das teure Bettgestell. Auf Wohn- und Lifestyleblogs wie Klonblog.de findet man Ideen und Anleitungen zuhauf, wie man schnell Couchtisch, Sofa oder Schreibtisch aus dem Altholz basteln kann. Mit bunten Kissen bedeckt, wird aus Paletten die Sofaecke, im sozialen Netzwerk Pinterest posten Mitglieder Fotos aus ihren Gärten mit Europaletten als Schaukeln und Blumenbeete.

Upcycling nennt sich diese Form des Recycelns, bei der etwas schlichtes Altes in etwas Hochwertigeres verwandelt wird. Also: Man nehme Dübel, Schrauben, Nägel und eine Europalette. Die befestigt man mit der geschlossenen Seite an der Wand, so, dass die Bretter parallel zum Boden hängen – schon ist das Bücherregal fertig. Bringt man an den Balken Nägel an, fungiert es gleichzeitig als Garderobe. Wer kein Bücher-, sondern ein Schuhregal will, hängt die Palette einfach mit der geschlossenen Seite nach vorne auf und klemmt Turnschuhe und Flipflops in die Ritzen zwischen den Brettern.

Auf Ebay werden Paletten für fünf bis zehn Euro pro Stück gehandelt, beim Hersteller kosten sie ungefähr das Doppelte. Es lohnt sich, auf Baustellen oder im Supermarkt nachzufragen, dort bekommt man alte Paletten manchmal geschenkt.

Wichtig ist nur, dass es sich dabei um Europaletten handel, denn die sind besonders stabil. Um den Namen tragen zu dürfen, muss die Holzkonstruktion 1,20 Meter lang sein, 80 Zentimeter breit und 14,4 Zentimeter hoch. Außerdem gehören dazu: 11 Bretter, 78 Nägel, 9 Holzklötze, die zwischen den Brettern angebracht sind, am rechten Eckklotz der für die Paletten typische Brandstempel EUR. Seit 1961 gehören sie so zu einem weltweiten Tauschsystem. Mit dem Schiff, Flugzeug, Laster oder Zug werden auf ihr alle möglichen Waren transportiert – bis sie schließlich ausrangiert zu Brennholz verarbeitet wird. Oder zu einem Möbelstück.

Das man inzwischen auch kaufen kann. Sebastian Nowakowski hat aus dem Trend eine Geschäftsidee gemacht – seit 2012 vertreibt er Designer-Palettenmöbel online für jene, die nicht selbst Hand anlegen wollen. Kimidori heißt sein Unternehmen, ein japanischer Name, der übersetzt grüne Lebensenergie bedeutet. „Kein Baum muss dafür sterben“ – damit wirbt das Unternehmen auf der Homepage für seine Produkte.

Wohnzimmertische, Hocker, Lampen, Kommoden, Regale und Stühle gibt es schon, ein Kleiderschrank und Polstermöbel sollen bald zum Sortiment gehören. Designed werden die Möbel in Berlin, hergestellt in Polen, wo Nowakowski mit einem kleinen Tischlereibetrieb zusammenarbeitet. Zwei bis sechs Stunden brauchen die Arbeiter dort für ein Stück.

Im Lagerhaus in Kreuzberg, von wo aus die Möbel verschickt werden, riecht es nach altem Holz. Neben ausrangierten, heruntergekommenen Europaletten glänzt ein kleiner Hocker, eine braun lackierte, schicke Kommode. „Die Palette, aus der die Möbel gemacht werden, hat vielleicht schon den Sonnenuntergang an der Algarve gesehen und den Herbst auf Thessaloniki“, sagt Nowakowski. „Die Möbel haben Geschichte und Charakter.“ Und sie sind recycelt – für viele Kunden ist das der Hauptkaufgrund. Für ihr gutes Gewissen geben sie einiges aus. Ein Couchtisch kostet 410 Euro, eine Kommode 580 Euro.

Andreas Claus Schnetzer und Gregor Pils haben keine Möbel gebaut, sondern gleich ein ganzes Haus. Aus 800 Paletten errichteten die Wiener Architekten, damals noch Studenten, im Rahmen ihrer Diplomarbeit ein würfelartiges Wohnhaus, das 2008 auf der Biennale in Venedig ausgestellt wurde. Schnetzer und Pils haben es sogar bewohnt.

Im Sommer wird der Bau in einem Fertighauspark in Österreich seinen festen Platz finden. Interessenten, die ein solches Haus bewohnen möchten, gibt es schon. Denn es ist nicht nur aus ökologischem Material, einschließlich der unbedenklichen Dämmstoffe, es ist außerdem energieeffizient: ein Passivhaus, das ohne Heizsystem auskommt. „Aufgrund der guten Wärmedämmerung reicht zum Heizen theoretisch ein Fön“, erklärt der Architekt.

In einem Township in Südafrika haben Schnetzer und Pils ihren Entwurf weiterentwickelt und eine Schule aus Paletten gebaut. Allerdings nicht aus Europaletten, die gibt es dort nicht. „Uns war es wichtig, regionale Materialien zu verwenden. In Südafrika haben wir 400 alte Paletten von einer Firma geschenkt bekommen, die sie sonst zerhäckselt hätte.“

Die simpelste Version des Baus der Wiener Architekten ist der sogenannte „Refugee Tube“. Mithilfe eines einfachen Stecksystems befestigt man die Paletten ineinander, so dass ein Bogen entsteht. Mehrere Bögen aneinandergereiht bilden eine Art Tunnel: Eine schnell errichtete und günstige Behausung, die in Flüchtlingscamps oder nach Katastrophen eingesetzt werden könnte, so die Idee der Architekten.

Eva Riedmann

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