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Demonstranten Ethem Sarısülük, Abdullah Cömert und Mehmet Ayvalitas wurden von türkischen Polizisten getötet.

© imago/Christian Ditsch

Moritz Rinke erinnert sich: Türkei: Der Ohnesorg-Effekt zieht nicht

Der Tod von Ohnesorg veränderte die Bundesrepublik. In der Türkei starben so viele Demonstranten, und nichts hat sich geändert. Am 24. Juni besteht nun die letzte Chance.

Am 2. Juni 2013 starb der türkische Student Ethem Sarısülük während der Demonstrationen im Güvenpark in Ankara, auf denen Tausende gegen die zunehmende Autokratisierung der Türkei protestierten. Tage später starben Mehmet Ayvalitas, Abdullah Cömert, Ali Ismail Korkmaz und Ahmet Atakan, alle um die 20 Jahre alt, alle aktiv im Rahmen der Gezi-Demonstrationen, alle wurden von Polizisten am Kopf getroffen, durch Stockschläge, Tränengaskartuschen oder Kugeln. Der Letzte von ihnen war Berkin Elvan, 15 Jahre alt. Er war am Rande der Proteste in Istanbul auf dem Weg, Brot zu kaufen. Der damalige Präsident Gül kondolierte der Familie; Ministerpräsident Erdogan erklärte den Jungen zum Terroristen.

Der Tod von Ethem Sarısülük in Ankara und die Manipulation der Todesursache durch Gerichtsmediziner und Staatsanwälte gleicht verblüffend der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während der Demonstrationen gegen den Schah-Besuch.

Ohnesorg und Sarısülük sind beide durch Schüsse in den Kopf aus kurzer Distanz getötet worden, an beiden wurden anschließend Obduktionen durchgeführt, bei denen die Kugeln aus dem Kopf herausoperiert wurden. Beide Polizisten, die geschossen hatten, blieben straffrei. Bei Kurras, dem Polizisten in Zivil, half die Berliner Staatsanwaltschaft. Beim Polizisten in Ankara, dessen Schuld durch ein Video bewiesen war, genügte die Aussage des Polizisten, dass ihm beim angedachten Schreckschuss in die Luft ein Stein aufs Handgelenk gefallen sei und sich deshalb die Schussbahn nach unten verschoben habe.

Der Irrwitz ist Methode geworden

Es gibt nur einen Unterschied. Ohnesorgs Tod veränderte die Bundesrepublik, er markierte den Beginn von „1968“. In der Türkei sieht das anders aus, obwohl die Proteste im Mai und Juni 2013 den Gezi-Park kurzzeitig in eine Utopie und die Hoffnung einer freien Türkei verwandelt hatten.

Mittlerweile kann, seit dem verhängten Dauer-Ausnahmezustand, die Polizei gegen Demonstranten vorgehen, wie sie will, weshalb man in der Türkei kaum noch welche auf den Straßen sieht. Und die irrwitzige Behauptung, dem Polizisten in Ankara sei beim „Schreckschuss“ ein Stein auf das Handgelenk gefallen, dieser Irrwitz ist längst Methode geworden, denn die angeblichen Terrorbeweise gegen Oppositionelle fallen in der Türkei wahrlich vom Himmel.

Vielleicht gibt es heute zu viele Bilder

Kürzlich traf ich den Schriftsteller Uwe Timm, der Benno Ohnesorg auf dem Braunschweiger Kolleg kennengelernt hatte, wo beide ihr Abitur nachholten. Timm erfuhr vom Tod des Freundes, als er in Paris an seiner Promotion über die „Indifférence“ bei Camus schrieb; er sah dieses berühmte Foto in den Zeitungen: Ohnesorg am Boden liegend, die junge Frau über ihn gebeugt. Timm unterbrach seine Arbeit über Indifférence und schloss sich den Protesten an.

Sein Freund Ohnesorg, sagte Timm, sei zwar sinnlos gestorben, aber sein Tod habe viel bewegt, dieses Land sei dann ein anderes geworden. Vom niedergeschossenen Ethem Sansülük, von Mehmet, Abdullah, Ali Ismail, Ahmet oder dem Jungen Berkin, der nur Brot holen wollte, gibt es auch Bilder, aber vielleicht gibt es heute zu viele Bilder, und sie helfen nicht mehr, die Indifférence zu brechen. So viele Ohnesorgs in der Türkei, nichts hat sich geändert.

Am 24. Juni besteht nun die letzte Chance in der Türkei bei den Präsidentschaftswahlen. Manche hoffen immer noch, andere sind sich sicher, dass die fehlenden Stimmen für den Präsidenten notfalls irgendwie vom Himmel fallen.

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