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Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan.

© dpa

Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Stille Tage in Antalya

Was die Türken über Erdogan flüstern.

Ich bin schon wieder in der Türkei. Bei der letzten Ausreise übermittelte ich dem Auswärtigen Amt noch alle Passnummern meiner Familie, Abflugort, Flugnummer etc., denn nach all den Berichten, die über die Maßnahmen nach dem Gegenputsch in der Türkei erschienen waren, dachte ich, ich würde sofort von den Grenzpolizisten verhaftet und in eines dieser überfüllten Gefängnisse geworfen werden – die Journalistin Tugba Tekerek berichtete, sie habe mit 27 Gefangenen in einer einzigen Zelle gesessen, darunter auch eine Schwangere, die in der Hocke schlafen musste, tagelang, ohne Wasser.

In Berlin sagte mein Sohn, der eigentlich noch gar nicht sprechen kann: „Annanenne“, jeden Tag: „Annanenne“. Damit meinte er immer wieder seine türkische Großmutter. Meinem Sohn sind der Gegenputsch, der Präsident und seine Säuberungen egal, er will „Annanenne“. Diesmal bin ich einfach so mit meinem Sohn ins Land von Annanenne gereist.

Ich kann in der Türkei sowieso besser an meinem Theaterstück über Luther schreiben als in Berlin. Es ist absurd: Mitten im Auge des wütenden Autokraten finde ich meine Ruhe.

Abends gehe ich in ein Restaurant in der Altstadt von Antalya. Der Koch, den ich den besten Koch der Welt nenne, ist Alevit aus Ostanatolien, aus Bingöl, wo er von Sunniten vertrieben worden ist, die dort lange friedlich mit den laizistischen Aleviten ausgekommen waren. Als ich ihn nach seinem Namen frage, sagt er leise „Erdogan“, er heiße so, er schämt sich fast. Nachdem man ihm in Bingöl eine sunnitische Moschee vor sein Haus gebaut hatte und er geflüchtet war, ging er nach Kemer, wo er Teppiche verkaufte, bis er machte, was er am besten kann.

Sein Sohn nimmt die Bestellungen auf, und da ich meist der einzige Gast bin, sprechen wir die ganze Zeit über den anderen Erdogan. Der Sohn spricht auch leise. Das Schlimmste ist, sagt er, dass wir alle nur ganz leise sprechen.

Aus Angst?, frage ich ihn.

Hörst du den Muezzin?, fragt er.

Er ist nicht zu überhören, man hört kaum sein eigenes Besteck beim Essen.

Er betet nicht mehr, sagt der Erdogan-Sohn. Seit der Putsch niedergeschlagen worden ist, verkündet der Muezzin seine Anweisungen, was die Menschen tun sollen und was nicht. Von Tag zu Tag immer länger, immer häufiger und immer siegesgewisser.

Ein Land, in dem sie nur noch flüstern oder schreien

Atatürk-Plakat in Istanbul.
Atatürk-Plakat in Istanbul.

© Reuters

Frage ich den Vater, was er von religiösen Anweisungen des Muezzins hält, spricht er so leise, dass ich ihn gar nicht mehr höre, so als würde man ihm, sobald er einen Laut macht, wieder eine Moschee direkt vor seine Kochplatte bauen.

Gehe ich in Cafés und befrage die türkischen Freunde zu den Verhaftungswellen: Man beginnt zu flüstern. Und selbst wenn ich Annanenne frage, dann senkt diese sonst so lebensstarke Frau ihr Haupt und flüstert. Die Türkei ist mittlerweile ein Land, in dem die einen flüstern und die anderen aus dröhnenden Lautsprechern schreien.

Gespenstisch war der Nationalfeiertag am 30. August. Man gedenkt der türkischen Nationalbewegung und des Unabhängigkeitskrieges unter Mustafa Kemal Atatürk gegen die fremde Besatzung. Ein kriegerischer, eigentlich kein wirklich schöner Tag der Erinnerung, immerhin ein Tag der Kemalisten, die der Türkei die Trennung von Staat und Religion brachten.

Die neuen „Demokraten“ der Türkei ihres Präsidenten verweigerten diesen laizistischen Tag, man sah sie nicht. Und hörte auch nicht den Muezzin. Die Türkei war an diesem Tag das leiseste Land der Welt.

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