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Nach dem Schlaganfall: Operation Campari

Mutter und Tochter leben 650 Kilometer voneinander entfernt, sie sprechen jeden Tag miteinander. Bis ein Schlaganfall die Mutter trifft. Für die Tochter beginnt ein Leben zwischen Pflege, Bürokratie und Wut.

Die neue Zeitrechnung beginnt kurz nach dem 64. Geburtstag meiner Mutter. Seitdem durchzieht ihre Krankheit jeden Tag jede Faser unseres Alltags. Seitdem pendeln wir zwischen Extremen. Teils überrennt uns die Zeit, zwingt uns in hässliche Situationen. Dann wieder sickert sie dahin, verlangt uns unendliche Geduld ab.

Wir warten. Darauf, dass Mutter ihren linken Arm und ihr linkes Bein wieder bewegen kann, und dass sie nicht mehr ständig müde ist. Ein Tag zählt in unserer Zeitrechnung wenig, kleine Fortschritte lassen sich bestenfalls in Wochen, eher aber in Monaten messen.

Längst ist unsere Erinnerung zweigeteilt: in das, was vor dem Schlaganfall war, und in das Danach. In unserem letzten Telefonat vor dem Schlaganfall geht es um ein DFB-Pokalspiel des FC Bayern München, das ich gerade live gesehen habe. Wenn sie mal wieder in München ist, sagt Mutter, will sie auch mal in die Allianz-Arena.

Sie wohnt in Oberhausen und kommt mich oft in München besuchen, seit sie in Frührente ist. Unsere Beziehung war immer außergewöhnlich eng. 40 Jahre lang hat sie mich stark gemacht gegen meine chronische Krankheit, eine seltene Fehlbildung des Lymphsystems. Sie versprühte Zuversicht, wenn die Ärzte nicht mehr weiterwussten. Packte zu, wann immer ich schwächelte. Und ließ los, sobald ich wieder allein konnte.

Mutter und ich telefonieren und simsen seit Jahren fast täglich. Nur am Tag nach ihrem Schlaganfall, der sich nachts ereignet, rufe ich sie nicht an. Schreibe keine SMS, deren ausbleibende Antwort mich stutzig machen könnte. Mutter lebt allein. Einen Tag lang wird sie nicht vermisst.

Das bedeutet, sie wird über 30 Stunden zu spät gefunden, um die Folgen des Schlaganfalls mit einer „Lyse-Behandlung“ zu lindern. Bei solch einer Behandlung werden stark blutverdünnende Medikamente verabreicht, die das Blutgerinnsel auflösen, das die Verstopfung eines Blutgefäßes bewirkt. Die Voraussetzung: Das Blutgerinnsel muss noch frisch sein, das Zeitfenster hierfür beträgt rund vier Stunden. Gelingt die Blutgerinnsel-Auflösung, bleibt der Gewebedefekt insgesamt kleiner.

30 Stunden zu spät. Sehr wahrscheinlich wächst das Infarktgebiet in Mutters Gehirn während dieser Zeitspanne. 270 000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Schlaganfall. Fortan wird Mutter zu den 70 Prozent von ihnen gehören, die langfristig mit Handicaps leben müssen. Das Gehirn steuert den Körper über Kreuz. Die rechte Gehirnhälfte ist für die Funktionen der linken Körperhälfte zuständig. Nach dem Infarkt wirkt diese bei ihr wie ausgeknipst. Halbseitenlähmung und Körperbewusstseinsstörung links, Gesichtsfelddefekte, Sprach-, Antriebs- und Aufmerksamkeitsstörung, Störung des Kurzzeitgedächtnisses, hirnorganisches Psychosyndrom – die Liste ihrer Schädigungen ist lang.

„Ihre Mutter hat noch Glück gehabt, es hätte sie noch viel schwerer treffen können“, sagt die Schwester der „Stroke Unit“ im Krankenhaus, einer Art Intensivstation speziell für Schlaganfallpatienten. Glück gehabt? Im Bett vor mir liegt eine Frau mit verzerrtem Gesicht, die sich nicht aufsetzen kann und gefüttert werden muss. Ihr Blick ist starr, ihr läuft Speichel aus dem linken Mundwinkel, auf Fragen antwortet sie verzögert und lallend. Kein Vergleich mit meiner attraktiven Mutter, mit der ich noch zehn Tage zuvor stundenlang durch Berlin gelaufen bin. Schlagartig ist ihre Würde weg.

November, 62 Tage nach dem Schlaganfall. „Ich bin da und bleibe es – für dich und alle anderen, die an mich glauben, natürlich auch für mich“, notiert Mutter auf die Rückseite ihres Trainingsplans in der neurologischen Rehaklinik. Bald nachdem sich ihr Zustand etwas stabilisiert hat, wird sie vom Krankenhaus dorthin verlegt. Mithilfe von Physio- und Ergotherapie und neuropsychologischem Training sollen die verloren gegangenen körperlichen und kognitiven Funktionen reaktiviert werden.

Woche für Woche besuche ich sie dort jeden zweiten Tag. Auf den ewig verstopften Autobahnen des Ruhrgebiets brauche ich für die 45 Kilometer bis zur Klinik mindestens eine Stunde. Oft stehe ich im Stau und sehe dem Laub beim Verfärben zu, bis es schließlich fällt. Dazu singt Peter Fox im Radio. „Gott hat einen harten linken Haken“ ist die einzige Liedzeile, die mich erreicht. Im Auto ist Zeit für Selbstmitleid, ein Ort zum Weinen.

Ansonsten geht es darum zu funktionieren: Mutter beim Essen helfen, Haare waschen, für frische Wäsche sorgen, mit ihr im Rollstuhl spazieren gehen. Sie streicheln. Dazwischen immer wieder Termine mit Ärzten und dem Sozialberater der Klinik. In den ersten sechs Wochen kommt funktional am meisten zurück, heißt es.

Bei Mutter nicht. Sie wird zusätzlich von fiebrigen Infekten geschwächt. „Ihre Mutter braucht länger“, sagt der Stationsarzt. Mutter hat keinen Partner, ich bin ihr einziges Kind und selbst krank. Der Arzt rät mir, mich schnell um einen Pflegeheimplatz zu kümmern, wenigstens mittelfristig sei das die beste Lösung.

Eine befreundete Neurologin steckt mir, dass man schwere Fälle wie Mutter früher mindestens ein halbes Jahr lang in der Reha behielt. Heute aber, sagt sie, stünden die Kliniken gegenüber den Krankenkassen unter enormem Kostendruck. „Die meisten Versicherten kommen heute je nach Bedarf auf drei bis sechs Wochen Reha“, sagt auch Stefan Stricker, Referent für Rehabilitation und Nachsorge von der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe.

Stark zu bezweifeln, dass unser Gesundheitssystem hier an der richtigen Stelle spart. Schlaganfallpatienten werden relativ schnell vom Akut-Krankenhaus in eine Rehaklinik verlegt, weil dort die verloren gegangenen Funktionen möglichst rasch und hochfrequent trainiert werden sollen, so argumentiert man. Aber Mutter ist wegen ihrer fiebrigen Infekte, unter denen im Übrigen viele Patienten infolge des Schlaganfalls leiden, oft nicht in der Lage aufzustehen. Dadurch geht ihr kostbare Trainingszeit in der Rehaklinik verloren, die nicht automatisch angehängt wird. Und schon gar nicht, scheint es, wenn ohnehin feststeht, dass die Patientin nicht mehr in ihr altes Leben zurückkann.

So sehr ich mich sträube, die Entscheidung duldet keinen Aufschub mehr, meine Mutter in einem Pflegeheim unterzubringen oder aber ihre Pflege zu Hause zu organisieren. All die Jahre war Mutter für mich und meine Krankheit da, ich möchte ihr gern etwas zurückgeben und hadere. Pflege ist schwere körperliche Arbeit. Ich kann mir schlecht eingestehen, dass mir dazu die Kraft fehlt. Letztlich entscheidet mein Hausarzt. Nach seiner Einschätzung bin ich in zwei Jahren tot, wenn ich das selbst übernehme.

Schlag auf Schlag geht es weiter, die nächste Entscheidung drängt: In welches Pflegeheim gebe ich Mutter? Hat das passend zum Reha-Entlassungstermin ein Zimmer frei? Innerhalb einer Woche besichtige ich sieben Heime. Nebenbei muss ich Mutters Wohnung auflösen, in die Privatheit ihrer Schränke eindringen und abwägen: Was braucht sie im Heim? An welchen Sachen hängt ihr Herz?

Ein Abstellraum für ihre Möbel muss her. In den folgenden Monaten wird er zum Sinnbild unserer Hoffnung, dass Mutter irgendwann wieder in eine andere Wohnform wechseln kann. Außerdem brauche ich eine günstige Bleibe in Oberhausen. Auch drei Monate nach dem Schlaganfall bleibt es für mich undenkbar, in meinen 650 Kilometer entfernten Münchner Alltag zurückzukehren.

Knapp 20 Minuten bevor mich die Nachricht von Mutters Schlaganfall erreicht, erfahre ich von der Einstellung des Magazins, für das ich als Redakteurin gearbeitet habe. Was sich erst wie der Super-Gau anfühlt, entpuppt sich – abgesehen von meiner Existenzangst – als günstige Fügung. Unvorstellbar, nebenher zu arbeiten. Unvorstellbar auch, das alles allein zu bewältigen. Fortan begleitet mich mein Cousin auf diesem Langstreckenlauf, immer optimistisch, zuverlässig, nachsichtig. Ein Glück.

31. Dezember, 100 Tage nach dem Schlaganfall. Mutters erster Jahreswechsel im Pflegeheim. Sie will ihr Handy zurück, um Neujahrs-SMS zu verschicken. Die ersten Wochen reicht ihre Aufmerksamkeit nur für Wörter mit verrutschter Buchstabenfolge. Bald schon hängt sie, wie früher, Smileys und Animationen an. Jede SMS ist eine Konzentrationsübung. Mutter schreibt viel. Sie macht oft intuitiv das Richtige.

Akribisch notiert sie sich Namen von Mitbewohnern, wer sie besucht und was sie erlebt. Ihre Art, sich in der Gegenwart zu verankern. Sie spricht mit ihrem gelähmten Arm, liest bettlägerigen Heimbewohnern Geschichten vor. Schon im Krankenhaus singt sie Schlager, so als wolle sie ihre Stimme stärken. Ein Arzt wertet das als Zeichen ihrer hirnorganischen Störung. Für mich ist ihr Gesang Ausdruck ihres Lebenswillens.

Überhaupt ist Mutter selten lebensunmutig. Nur wenn mir wieder mal der Geduldsfaden reißt, wenn meine Verzweiflung überhandnimmt, ich sie unter Druck setze, ihr vorhalte, zu wenig zu üben, wenn ich sie schreiend aus ihrer Müdigkeit rütteln will, vor den Rollstuhl trete, Sachen an die Wand schmeiße, wenn ich mich selbst nicht mehr aushalte, dann weint sie und sagt, es wäre für alle leichter, wenn sie einfach gestorben wäre.

Immer wieder mache ich ihr solche Szenen. Immer mehr ufert meine Wut aus. Wut darüber, dass ich für alles die Verantwortung tragen muss und Mutter mich mit meiner Krankheit alleinlässt. Wut darüber, dass ich die meiste Zeit einsam, ohne Arbeit und ohne Zuhause in Oberhausen festsitze. Mein Leben müsse auch weitergehen, sagt der Cousin, sagen Freunde. Es vergeht ein Jahr, bis ich wage, etwas loszulassen.

Insgeheim rechne ich mit weiteren Schicksalsschlägen. Mich treibt die Angst vor einem zweiten Schlaganfall um. Es dauert lange, bis ich begreife, dass sich eine Verschlechterung ihres Zustands nicht durch meine ständige Anwesenheit im Pflegeheim vermeiden lässt – und dass sie sich andererseits dadurch auch nicht schneller erholt.

Mein verzweifeltes Ringen darum, „meine alte Mama“ zurückzubekommen, steigert meinen Ehrgeiz ins Unermessliche: Ich trainiere täglich mit ihr, manchmal überfordere ich sie damit. Meine Verzweiflung lässt mich übersehen, dass ihr unser Lauftraining mehr Spaß macht, wenn ich es ausgeruht, satt und weniger verbissen angehe. „Der Schlaganfall hat nicht nur aus mir eine andere gemacht“, tröstet sie mich einmal. „Wir müssen beide wieder zu uns zurückfinden.“

Mutters veränderte Persönlichkeit macht mir am meisten zu schaffen. Immer wieder frage ich andere, welchen Eindruck sie von ihr haben. „Das ist deine Mutter, nur eben in slow“, versichert mir eine Freundin.

Mir scheint sie jedoch als engste Vertraute verloren. Oft schaut sie an mir vorbei, während wir reden. Manchmal hat ihre Diktion etwas übergenau Artikuliertes und Manieriertes, dann wieder klingen ihre Sätze kraftlos-verwaschen. Schon ein vorbeifliegender Vogel oder ein Autoscheinwerfer lenken sie vom Zuhören ab. An manchen Tagen braucht das Gesagte länger, bis es sie erreicht, dann antwortet sie immer noch verzögert.

Sie vergisst Termine und Absprachen, reagiert teils überempfindlich, dann wieder ungewohnt gleichgültig. Von ihrer ehedem großen Ordnungsliebe scheint nichts übrig: Auf dem Tisch trocknen Blumen vor sich hin, sie verliert Geld, überall in ihrem Zimmer liegen Zeitungen verstreut. Ihre Antriebsschwäche und bleierne Müdigkeit laugen mich aus, nehmen mir die Zuversicht und machen mich aggressiv. Viele Male hilft nur, das Heim sofort zu verlassen. Dann wird mir klar, dass mich ihre Pflege zu Hause nicht nur körperlich überfordert hätte.

Drei Schlaganfall-Ratgeber lese ich während dieser Zeit. Alle Autoren betonen, dass eine Antriebs- und Aufmerksamkeitsstörung nicht als Desinteresse des Kranken missverstanden werden darf. Das befremdliche Verhalten ist ein Nicht-Können, kein Nicht-Wollen. Das Hintergrundwissen tröstet mich kurz, schützt mich aber nicht: vor den Zweifeln, ob das noch meine Mutter ist. Immer wieder erwischt mich eine fremde Verhaltensweise kalt.

Obwohl sie sich auch kognitiv zu erholen beginnt, geht es nicht stetig bergauf. Das Krankheitsbild ist perfide: Drei wachen Tagen, an denen ich mich sacht an ihre schnelleren Reaktionen, ihre stärkere Präsenz zu gewöhnen beginne, innerlich schon frohlocke, folgt auf einmal wieder eine schwächere Phase.

Juni, 253 Tage nach dem Schlaganfall. Mutter läuft zum ersten Mal ein paar Schritte allein mit einem Stock. In den nächsten Monaten werden die Bewegungen ihres gelähmten Beines runder. Sie gewinnt an körperlicher Kraft, während den Leuten um sie herum zusehends die Kräfte schwinden.

Mutter ist mit 64 Jahren die Jüngste im Pflegeheim. Ihre Mitbewohner sind im Schnitt 20 Jahre älter, die meisten davon dement. Manchmal steht jemand ungebeten in ihrem Zimmer. Demente und Sterbende stöhnen oft laut und anhaltend. Nicht selten hört Mutter durch die dünnen Wände über Stunden ein Konzert der Leidenden. Allein im ersten Jahr zählen wir 15 Sterbefälle. Nirgends sonst ist Vergänglichkeit so spürbar wie in einem Pflegeheim. Oft sieht Mutter den Rettungswagen vorfahren, denn wenn der Hausarzt keinen Hausbesuch macht, geht’s gleich ins Krankenhaus. Ein Heimarzt ist im Stellenplan des Pflegeheims nicht vorgesehen, ein Psychologe schon gar nicht.

So freundlich und bemüht die Pflegerinnen und Pfleger sind, so wohlversorgt ich meine Mutter dort weiß – der richtige Ort ist es für sie nicht. Schon weil wir Besserung erwarten, nicht den Tod. Mutter hat mit Mitte 60 noch eine Lebenserwartung von 20 Jahren, sie kann mit ihren Handicaps alt werden. Als „mittelfristige Lösung“ hat der Arzt in der Rehaklinik ihre Unterbringung im Pflegeheim bezeichnet. Daran halten wir fest. Mutters eiserner Wille, dort wieder rauszukommen, ist ihr Motor, sich mit dem deprimierenden Umfeld zu arrangieren. Sie hat eine Vision, gegen die auf Dauer kein Missmut ankommt. Sie will so wie früher auf meiner Terrasse in München Campari trinken. „Parole: Campari“ nennt sie das.

Ich mag einfach nicht glauben, dass es für Fälle wie Mutter keinen geeigneteren Ort als das Pflegeheim gibt. Werden die Jüngeren alle zu Hause von Angehörigen gepflegt? Ist der Bedarf an stationären, auf jüngere Patienten spezialisierten Pflegeeinrichtungen, die mehr in Richtung Rehaklinik statt Verwahranstalt gehen, wirklich so gering? „Nein“, sagt Stefan Stricker von der Schlaganfall-Hilfe, „in diesem Bereich bewegt sich zwar langsam etwas, aber es gibt weiterhin eine Versorgungsproblematik, die generell für jüngere Pflegebedürftige gilt, nicht nur für Schlaganfallpatienten.“ Auch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt ist nicht frei von Versorgungslücken.

Januar, 472 Tage nach dem Schlaganfall. Seit drei Monaten arbeite ich wieder und pendle zwischen Oberhausen und München. Mutter hat jetzt ein Laptop und spielt damit, wie früher, stundenlang Solitär, aber auch spezielle „Gehirnjogging“-Spiele, die Reaktionsvermögen, Konzentration und Handlungsplanung trainieren.

Auch physisch macht sie gute Fortschritte. Wenn sie davon berichtet, klingt ihre Stimme selbstbewusst. Sie trägt eine Beinschiene, die ihr linkes Bein beim Auftreten stabilisiert. Mithilfe ihres Therapeuten schafft sie es, zum ersten Mal eine Treppe hoch- und wieder runterzusteigen. Das Resultat eines harten Trainingsjahres. Wie viele Funktionen sie letztlich zurückgewinnen kann, vermag uns von Anfang an keiner genau zu sagen. Die Prognose der Ärzte im Akut-Krankenhaus klang jedoch düster.

„Die Reha-Prognose ist bei einem Schlaganfall relativ schwierig“, sagt Prof. Dr. Hellmuth Obrig, Leiter der Klinik für kognitive Neurologie am Universitätsklinikum Leipzig. „Grundsätzlich ist die Möglichkeit einer Verbesserung aber langfristig vorhanden“, so der Experte. Das Gehirn befindet sich in einem fortwährenden Veränderungsprozess, es ist lebenslang lernfähig. Gesunde Hirnbereiche können Funktionen des Gewebes übernehmen, das durch die Sauerstoff- Unterversorgung abgestorben ist. Neuronen können sich neu verschalten, wenn sie immer wieder durch gezieltes Üben aktiviert werden.

Eine Mut machende Erkenntnis, die oft an der Realität scheitert. Denn ist die Trainingsfrequenz bei den rund 17 Prozent der Schlaganfallpatienten mit schweren Funktionsstörungen in der Rehaklinik noch hoch, wird danach oft gar nicht oder zu wenig trainiert. Wer aber nicht regelmäßig übt, verliert wieder, was er schon an Funktionen zurückgewonnen hatte. Deshalb ist der Aufbau eines ambulanten Nachsorgenetzwerkes nach der Reha so wichtig. Nur: Das überlässt man wie selbstverständlich den Angehörigen oder dem chronisch überlasteten Personal der Pflegeeinrichtung, in die der Betroffene nach der Reha wechselt.

Schlaganfallpatienten mit vielfachen Störungen brauchen meist mehrere Therapieformen, die erst mal organisiert und koordiniert sein wollen. Damit sind viele Angehörige, genauso wie das Pflegepersonal, überfordert. Selbst mich, durch meine eigene Krankheit erfahren in der Auseinandersetzung mit Ärzten, Therapeuten und Krankenkassen, kostet es eine Menge Biss, Zeit und Geld, um an allen Fronten das Maximum für Mutter zu erkämpfen. Noch so eine Versorgungslücke in unserem Gesundheitssystem.

Und noch eine: Ausgerechnet im dicht besiedelten Ruhrgebiet finde ich nur eine psychologische Praxis im näheren Umkreis, die eine neuro-psychologische Therapie anbietet. Dabei leiden so viele Schlaganfallpatienten unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Die computergestützte Therapie hilft ihnen, die Konzentration langfristig wieder zu schärfen. Bis bei einer Psychologin für Mutter ein Platz für eine Gesprächstherapie frei wird, dauert es sehr viel länger. Erst knapp zwei Jahre nach dem Schlaganfall bekommt Mutter die Gelegenheit, die einschneidenden Folgen des Krankheitsereignisses mit professioneller Hilfe regelmäßig zu verarbeiten.

November, 786 Tage nach dem Schlaganfall. Ich höre Mutter zum ersten Mal wieder herzhaft lachen. Kein schiefes Grinsen, kein sarkastisches Kichern, nein, sie lacht, ansteckend, so wie früher. Ihre Gesichtszüge haben sich entspannt. Die bleierne Müdigkeit weicht. Sie schafft es wieder, ein Buch zu lesen, „Tatort“ zu gucken, ein längeres Telefongespräch zu führen. Ihr Kurzzeitgedächtnis hat sich regeneriert. Sie beginnt, Schubladen und Schränke aufzuräumen, Unterlagen abzuheften. Wir haben unsere alte Vertrautheit zurückgewonnen.

Nur noch selten stolpere ich über eine irritierende Verhaltensweise. Weil Mutter immer mehr zu sich zurückfindet? Weil ich inzwischen akzeptiere, dass der Schlaganfall und der verantwortungsfreie Tagesrhythmus im Heim ihre Persönlichkeit verändert haben?

Viele Monate sind nun seit Mutters Schlaganfall vergangen. Die schlimmsten. Erschöpfendsten. Teuersten. Unser Leben hat sich komplett umsortiert. Eines aber ist genau wie früher. Wir sind ein gutes Team, wenn es darum geht, einer Krankheit zäh die Stirn zu bieten – entgegen allen Prognosen.

August, 1045 Tage nach dem Schlaganfall. Mutter trägt jetzt eine neue Beinschiene, die ihr gelähmtes Bein noch besser stabilisiert, und läuft am Stock 400 Meter ohne Pause. Sie singt dazu ein Lied von Nancy Sinatra: „These Boots Are Made For Walking“. Jeder Schritt bringt sie dem Campari auf meiner Terrasse ein Stück näher.

Martina Koch

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