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Ehemaliger Friedhof Rathausstraße. Heute liegt an der Ruschestraße in Berlin Lichtenberg ein Park.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nachruf auf Klaus Burghard (Geb. 1948): Der Mensch ist dazu gemacht, sich zu verausgaben

Er glaubte nicht an Grenzen und hatte für alles eine ziemlich gute Begründung: Ich bin Arzt! Der Nachruf auf ein reiches und selbstloses Leben.

Am 19. Dezember 2016 war er noch die ganze Nacht als Notarzt auf dem Breitscheidplatz. Er gehörte zur SEG, der Berliner Schnelleinsatzgruppe des Roten Kreuzes. Auf der ganzen Welt haben Menschen auch durch ihn erfahren, was es heißt, sein Leben in die Hand eines Fremden legen zu dürfen, die vietnamesischen Boatpeople Ende der Siebzigerjahre ebenso wie später die Kurden im ersten Golfkrieg.

Er glaubte nicht an Grenzen, schon gar nicht an die der Kriege, nicht einmal an die temporären der Sprechzeiten an der Tür seiner Weddinger chirurgischen Praxis. Und an seine eigenen glaubte er nach Möglichkeit auch nicht. Die Kollegen vom Berliner Verein „Medizin hilft“ nannten ihn „unseren Mann für besondere Aufgaben“. Als 2015 die Lage der Flüchtlinge sowie die der Mitarbeiter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales in der Turmstraße außer Kontrolle geriet, konnte man sich zumindest auf eines verlassen: Burghard war da.

Er hatte für all das immer eine ziemlich gute Begründung: Ich bin Arzt!

Was mich nicht umbringt, macht mich stärker: So hatte er immer gelebt

In der Nacht des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt spürte er wieder seine große Schwäche: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. So hatte er immer gelebt. So hatte er zehn Jahre zuvor eine schwere Bypass-Operation überstanden und danach ein Nierenkarzinom.

Der Mensch ist nicht dazu gemacht, sich zu schonen; der Mensch ist dazu gemacht, sich zu verausgaben. Er war in den Sechzigerjahren jung, er gehörte der Generation an, die glaubte, die Jugend sei ihre ureigene Entdeckung. Und das Leben, wenn es wirklich lebt. Der Tod aber ist nichts weiter als seine willkürliche, eigentlich ganz und gar indiskutable Begrenzung.

Im März 2017 stand die Diagnose fest: Der Krebs ist zurück. Sie haben noch vier bis sechs Wochen! Auch dafür, solche Fristen mitgeteilt zu bekommen, ist der Mensch nicht gemacht. Als ob er zu seiner eigenen Hinrichtung ginge. Nur dass die verurteilende Instanz eine war, die er schon durch seine Berufswahl grundsätzlich anerkannt hatte: die Natur selbst. Und das Natürlichste und Widernatürlichste zugleich geschah. Klaus Burghard akzeptierte.

Er teilte seinen vier Kindern mit, dass sie nach Hause kommen müssen, man wolle noch einmal ein Fest feiern, am nächsten werde er nicht mehr teilnehmen können. Er setzte sich mit alten Fotos in der Hand vor die Kamera und erzählte, was er zu diesen Bildern wusste. Der Mensch ist das vorausschauende Tier, darin nicht zuletzt liegt seine Würde. Die Philosophen nennen es „Antizipation“. Die Nachtseite: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sein Ende denken kann. Für Martin Heidegger war es das „Vorlaufen zum Tod“. In diesem Punkt, sagte der Philosoph, würden sich Denken und Sein berühren.

Er wußte, was es heißt in allerletzten Augenblicken bei Menschen zu erscheinen

Klaus Burghard hat diese Seite in der Zeitung immer gelesen. Nachrufe. Das heißt: Angehörige, Freunde berichten, wie es war. Gibt es ein plausibles Argument, das nicht selber zu tun, so lange noch Zeit ist? – Hier bin ich, sagte Klaus Burghard am Telefon, noch. Wahrscheinlich hat er die Befangenheit gespürt am anderen Ende der Leitung, doch es gab keinen Grund, seine Kronzeugenschaft abzulehnen. Zumindest keinen vernünftigen. Ich bin Arzt, sagte er ermutigend.

Und er wisse schließlich selbst, was es heißt, in allerletzten Augenblicken oder in denen danach bei anderen Menschen zu erscheinen. Er hat das so formuliert: „Es gibt bei Hausbesuchen nichts Furchtbareres, als wartend nach dem Klingeln an der Tür zu stehen, bis sich von innen quälend langsam die Schritte der Tür nähern.“ Das ist ein Satz aus einer seiner Kurzgeschichten, die er gern noch als Buch in der Hand gehalten hätte, die Momentaufnahme aus dem Leben eines Arztes, der einen Totenschein ausstellen soll, den Totenschein einer langjährigen Patientin: „Mit verweinten Augen öffnet mir ihr Mann, ich murmle etwas von Beileid, als er mich ins Wohnzimmer weist. Dort liegt halb, halb sitzt sie, blickt mich mit ebenfalls verweinten Augen an. In ihren Armen der Hund: Er war tot.“

Seine Familie besaß seit Generationen einen Hof bei Pfaffenhofen an der Ilm, Bayern. Die Grenzen des Tales waren die Grenzen der Welt. Burghards Vater war der Erste, der eine höhere Schule und dann eine Universität von innen sah. Er sollte Priester werden, doch er wurde Jurist und später Landrat in Schweinfurt. Hier wuchs Klaus Burghard auf mit zwei Brüdern, aber er besaß noch eine Zweitfamilie, das waren die Pfadfinder.

Schwester Jutta wollte mit ihm essen gehen, er sagte nur: Ja!

Die Pfadfindergesetze lauten: 1. Auf die Ehre eines Pfadfinders kannst du bauen. 2. Der Pfadfinder ist treu. 3. Der Pfadfinder ist hilfsbereit. 4. Der Pfadfinder ist Freund aller Menschen. Und immer so weiter. Dennoch war dem Jungen jedes ironische Verhältnis zu dieser Programmschrift fremd. Insbesondere in die Erfüllung und Übererfüllung von Gebot 8 würde er lebenslang seinen Ehrgeiz setzen: „Der Pfadfinder überwindet Schwierigkeiten mit einem Lächeln.“

1968 stand der katholische Pfadfinder etwas deplatziert mitten in West-Berlin, obwohl er instinktiv genau das Richtige tat. Zwar war er hier, um an der FU Medizin zu studieren, dennoch führte ihn sein erster Weg keineswegs nach Dahlem. Kaum angekommen, schloss er seinen Koffer auf dem Bahnhof ein und ging zu einer Demo. In dieser Form der Freizeitgestaltung brachte er es so weit, dass der bayerische Verfassungsschutz auf ihn aufmerksam wurde und den Schweinfurter Landrat informierte.

1968 traf auch ein etwas exzentrischer Freud-Schüler in Berlin ein, Josef Rattner, Erfinder der Großgruppentherapie. Der seelisch bedrängte Einzelne sollte sich künftig nicht mehr seinem Therapeuten oder einem kleinen Kreis, sondern tendenziell gleich der Masse öffnen. Burghard nannte diese Zeit später die Rattner-Jahre . Er heiratete seine Jugendliebe, sie hatten eine Tochter miteinander, aber auch die therapeutische Masse konnte die junge Ehe nicht retten. Und keine Gruppendynamik würde ihn durch seine Medizinprüfungen tragen, da schien ihm das neunte Gebot seiner Jugend, obgleich nicht ganz zeitgemäß, doch sicherer: Der Pfadfinder ist fleißig.

Am 23. März 1979 wartete der Facharzt Klaus Burghard am Behring-Krankenhaus Berlin-Zehlendorf auf der Wachstation mit einer gewissen Ungeduld auf den Eintritt von Schwester Jutta. Das Stationsgeflüster hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Schwester Jutta um seine Hand anhalten wolle, oder nein, dass sie ihn fragen möchte, ob er mit ihr essen gehe, aber noch nicht wisse, wie sie das formulieren solle.

Nicht ohne Befriedigung sah er die Kollegin von der Intensivstation schließlich ins Zimmer treten. Als sie einen der kompliziertesten Sätze ihres Lebens schließlich ausgesprochen hatte, sagte der Chirurg nur: Ja! Das war empörend wenig. Wollte der nicht einmal wissen, wo und wann?

Ich muss anderen etwas zurückgeben

Es wurde das entscheidende Ja seines Lebens, nur Monate später ging er auf seinen ersten Auslandseinsatz, er galt den Boatpeople von Vietnam.

Die Zeit, das Glück, die zehn Gebote der Pfadfinder, Schwester Jutta, er selbst – alle waren auf seiner Seite. Seine Kinder, seine Freunde machten ihn reich. Ich muss anderen etwas zurückgeben für das, was ich bekommen habe! Auch das ist eine Art von Ökonomie, vielleicht die primäre, und eigentlich hat er nie an eine andere geglaubt.

Zu seiner Beerdigung kamen über 500 Menschen. Das Rote Kreuz stand Spalier mit Fahnen. Auch Lea Rosh sprach für ihren Freund. Klaus Burghard war eins der ersten Mitglieder ihres Fördervereins für ein Denkmal der ermordeten Juden Europas gewesen, nicht nur wegen der jüdischen Familie seiner Frau. Es war alles so, wie er es vorbereitet hatte, wie er es niemals hätte vorbereiten können. Aber die wichtigsten Farben seines Lebens hatte Klaus Burghard vergessen. Das Blau und Weiß Bayerns sowie der größten Fußballmannschaft der Welt, Hertha BSC. Die Krankenschwester, die ihn 38 Jahre zuvor gefragt hatte, ob er mit ihr essen gehe, legte ihm weiße Rosen und blaue Hortensien auf sein Grab.

Nachrufe auf Berliner, die in den vergangenen Wochen gestorben sind, finden Sie hier.

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