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 Greta Thunberg, Luisa Neubauer und Mitstreiterinnen bei Protesten in Davos.

© AFP / FABRICE COFFRINI

Nervige Kritik an Klimaaktivisten: Die Nichtstuer hatten ihre Chance

Wer jahrzehntelang nichts gegen den Klimawandel unternommen hat, sollte jetzt nicht junge Demonstranten verhöhnen. Die Boshaftigkeit und Schadenfreude vieler Kritiker sind unerträglich.

Ein Kommentar von Sebastian Leber

Wie sehr diese Argumentation nervt: „Das Anliegen der Klimaaktivisten mag ja richtig sein, aber ihre Protestformen sind unverschämt.“ Mal seien diese kindisch oder gefährlich, mal taktisch unklug, mal kontraproduktiv oder übertrieben – doch immer seien sie falsch. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, was genau sich die jungen Menschen dieses Mal ausgedacht haben, ob sie eine Sitzblockade wagten, sich irgendwo festklebten oder etwas im Museum beschmierten.

In Lützerath verließen Demonstranten eine mit der Polizei vereinbarte Marschroute. Ging gar nicht! Im Dezember kappten sie die Spitze des Weihnachtsbaums am Brandenburger Tor. Ging auch gar nicht! Im Konzertsaal protestieren? Schlimm! Baumhäuser bauen? Auf keinen Fall!

Schon als 2018 eine junge Schwedin begann, freitags tagsüber vor dem Klimawandel zu warnen, war die Empörung riesig. Damals dachte ich noch, okay, vielleicht geht es den Kritikern tatsächlich um verpasste Schulstunden. Ich war halt naiv.

Die Disziplin „Sich über Protestformen von Klimaaktivisten beschweren, ohne selbst den Arsch hochzukriegen“ treibt immer wildere Blüten. Der Wunsch, jede Protestform zu canceln, wirkt zunehmend totalitär. Selbst wenn die Aktivisten künftig bloß noch Schweigeminuten veranstalteten, müssten sie sich vermutlich den Vorwurf anhören, sie atmeten zu laut.

Wie wird man in der Zukunft über die Protestformen von heute denken?

Ich stelle mir die Welt in 20 Jahren vor. Das Klimaziel endgültig verfehlt. Die Konsequenzen, um die schon jetzt jeder wissen kann, noch sichtbarer als heute. Die Schlauberger in den Talkshows werden dann nicht mehr sagen: „Die Anliegen der Klimaaktivisten mochten ja richtig sein, aber ihre Protestformen waren falsch.“ Sie werden eher darüber klagen, dass so viele gepennt und die Regierungen ihre eigenen Beschlüsse missachtet haben.

Beim aktuellen Aktivisten-Bashing werden auch munter Fakten verdreht, beschmutzte Sicherheitsgläser etwa zu zerstörten Kunstwerken umgelogen. Oft paaren sich bösartige Unterstellungen mit offenkundiger Ahnungslosigkeit. Zum Beispiel bei Hubert Aiwanger, immerhin Vize-Ministerpräsident von Bayern. Der fantasiert einerseits: „Ziel der Klimakleber ist Deindustrialisierung.“

Ich frage mich immer bei Kritik oder Skepsis: Was könnten sie stattdessen machen, das wirksamer ist und genauso wenig stört oder genauso wirksam mit weniger Ablehnung der breiten Masse?

Schreibt Community-Mitglied Lausoderhexe

Andererseits verbreitet er im Fernsehen die groteske Falschinformation, man müsse lediglich 25 Quadratkilometer Wald pflanzen, um den jährlichen Kohlendioxid-Ausstoß Deutschlands zu kompensieren.

Nach dieser Vollblamage könnte man annehmen, der Mann werde sich in der Klimadebatte ein wenig zurückhalten. Nicht so Hubert Aiwanger. Der trollt lieber Menschen, die es wagen anzumerken, dass eine Hitzephase Ende Oktober besorgniserregend ist.

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Die unrühmliche Rolle der Polizeigewerkschaften

Unerträglich sind auch die ständigen Unterstellungen und der Hohn, die Funktionäre der Polizeigewerkschaften herausposaunen. Als Aktivisten die Spitze des Weihnachtsbaums am Brandenburger Tor kappten, empörte sich Gewerkschaftssprecher Benjamin Jendro allen Ernstes: „Wir sehen doch anhand von solchen Aktionen, wie scheinheilig diese Organisation in Teilen längst agiert.“

Weiter spottete er: „Es muss höhere Wissenschaft sein, wenn man denkt, dass man mit dem Absägen der Spitze eines Weihnachtsbaumes etwas Sinnvolles gegen den voranschreitenden Klimawandel unternimmt.“ Wie kommt Jendro darauf, die Wirkmächtigkeit von Protestformen beurteilen zu können?

Noch anmaßender verhält sich, mal wieder, der notorische Manuel Ostermann von der Polizeigewerkschaft DPolG. Der ätzte gegen zwei Aktivisten, die sich in der Hamburger Elbphilharmonie am Dirigentenpult festklebten: „Nur noch peinlich. Diejenigen, die ernsthaft das Klima schützen wollen, schämen sich für euch.“ Als ob Ostermann einschätzen könnte, was peinlich ist und was „ernsthafte“ Klimaschützer denken.

Besonders eklig sind die Häme und Schadenfreude vieler Kritiker. Ich kenne Menschen, die es begrüßen, dass Polizisten in Lützerath brutal auf friedliche Demonstranten einprügelten, weil diese sich nicht an die vereinbarte Wegstrecke hielten. Was stimmt mit diesen Menschen nicht?

Als Faustformel: Wer jahrzehntelang selbst nichts gegen den Klimawandel unternommen hat, weder auf seinen eigenen ökologischen Fußabdruck achtete noch sich klimapolitisch engagierte, der sollte sich jetzt vielleicht besser zurückhalten, bevor er junge Menschen verhöhnt, die sich aus Verzweiflung auf Wege kleben. Die Nichtstuer hatten ihre Chancen.

Und nein, dies ist keine Pauschalkritik an älteren Menschen oder Generationen. Ganz im Gegenteil. Millionen Menschen haben sich in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg für Klima- und Umweltschutz eingesetzt. Wären sie in der Mehrheit gewesen, wären sie nicht überhört, angefeindet und diffamiert worden, müsste sich jetzt auch niemand festkleben.

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