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Jayson Fann in einem seiner Nester.

© Jessica Braun

Nester für Menschen: En Horst für alle Fälle

Vögel und ihre Bauwerke inspirieren ihn: Jayson Fann hat schon überall auf der Welt Nester errichtet – für Menschen. Die meisten davon in Big Sur, Kalifornien. Ein Ortstermin.

Jayson Fann wirft die Machete in die Luft wie einen Schlagzeugstock. Das Messer mit der unterarmlangen Klinge wirbelt durch die Luft. Bevor es zu Boden fallen kann, schnappt Fann den Griff mit einer Hand. „Wenn man so viel Holz schlägt wie ich, dann bekommt man ein Gefühl für die Dinger“, sagt er. Und hackt auf den nächsten Ast ein.

Sein weißes Leinenhemd hat Schweißflecken. Die Stirn unter der Ballonmütze ist gerötet. Jeder Schlag lässt die Kette mit dem goldenen Om-Anhänger vor seiner Brust hin- und herschwingen. Die Arbeit mit der Machete kostet Kraft.

Es ist ein heißer Tag im Herbst 2015. Kalifornien erlebt sein viertes Dürrejahr in Folge. Das Waldstück, in dem Fann Äste sammelt, liegt an den nördlichen Ausläufern von Big Sur. Der Pazifik ist nicht weit, aber zwischen den Bäumen ist keine Brise zu spüren. Das Sonnenlicht quillt heiß durch die Wipfel, täglich berichtet das Fernsehen über neue Waldbrände. Die Menschen haben Angst vor dem Feuer, das selbst riesige Ranches und Villen in wenigen Stunden in Asche verwandeln kann.

Weiter unten am Hang sind Arbeiter dabei, mit Motorsägen eine Bresche in den Wald zu schneiden. Eine Feuerbarriere. Sie haben Jayson Fann angerufen: Er darf sich die schönsten Äste aussuchen. Eine Arbeitserleichterung für den 43-Jährigen. Und eine Auszeichnung.

"Meine Frau hätte auch gern ein Nest"

Im Hippie-Hideaway Big Sur, einem Küstenstreifen zwischen Steilklippen und Redwood-Wäldern, bezeichnet sich jeder Zweite als Künstler, und viele arbeiten mit Holz. Keiner ist so beliebt wie Fann. Dem Zauber seiner Nester kann man sich eben nur schwer entziehen.

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Seine Fähigkeit, aus meterlangen Ästen Kogel und Kugeln zu weben, groß genug, dass mehrere Kinder darin spielen können, lässt selbst Forstarbeiter zu Fans werden. „Ich wüsste so gern, wie Sie das machen“, sagt der Vorarbeiter, der mit seiner Kolonne vorbeigekommen ist, um Hallo zu sagen. „Meine Frau hätte zu Hause auch gern so ein Nest.“

Nestbauer Fann (bigsurspiritgarden.com) ist diese Begeisterung gar nicht so recht. Eigentlich ist er Schlagzeuger; vor wenigen Wochen war er mit der Jazz- und Blues-Sängerin Iyeoka auf Welttournee. Angesprochen wird er in Big Sur aber immer nur auf seine Nester. Wegen ihrer Struktur und Größe wirken sie wie Märcheninventar: geflochten aus dicken Ästen und Zweigen, ausladend und stabil. Nichts wackelt, wenn man an den luftigen Astwänden rüttelt. Sie sind unnachgiebig wie Zement – und trotzdem luftig. Klettert man in eines der Nester hinein, fühlt man sich geborgen, aber nicht eingeengt. „Sie haben eine eigene Energie“, sagt Fann. „Richtig zur Geltung kommen sie erst, wenn jemand drinsitzt.

Am liebsten Eukalyptus

An den nördlichen Ausläufern von Big Sur baut Jayson Fann seine Nester.
An den nördlichen Ausläufern von Big Sur baut Jayson Fann seine Nester.

© Jessica Braun

Der friedfertige Machetenwerfer versteht seine Nester vor allem als Gebrauchsgegenstände. Als Rückzugsorte, wie sie sonst nur Vögel haben – geschützt, aber mitten in der Natur. Manchmal baut er sie, um einen Ort zu verschönern. An einem See, auf einer Lichtung oder auch in einer Wohnsiedlung, in der sozial schwache Familien wohnen. Viele sind jedoch Auftragsarbeiten: Baumhäuser für Kinder, Meditationsplätze für Erwachsene. Sie stehen in privaten Gärten, aber auch Krankenhäuser und Zoos schmücken sich damit. Eine Filmfirma hat ebenfalls mal eines geordert, für die Komödie „Wanderlust“ mit Jennifer Aniston.

Ein anderes kann man buchen. Für das Treebones Resort, ein Glamping-Platz – der Begriff steht für „glamouröses Camping“ – am Highway Number One hat der Nestbauer ein palisadenartiges Podest unter einer Pinie errichtet und darauf eine Kugel aus Ästen gesetzt. Eine Leiter führt hinauf. Das Resort vermietet das Nest als Übernachtungsgelegenheit für maximal zwei Personen. „Wir wollten gern eine Unterkunft haben, die sich nahtlos in die Landschaft eingliedert“, sagt John Handy, der Besitzer des Resorts. „Unsere Gäste fahren total darauf ab. Das Nest ist ständig belegt, selbst in den Wintermonaten.“ Zimmerschlüssel gibt es keine. Dafür hat man einen adlergleichen Blick ins Blaue: oben der Himmel, unten die Wellen des Pazifiks. Nachts blinken die Sterne durch die Zweige. „Ein Paar, das in meinem Nest übernachtet hat, schickte mir danach ein Babyfoto“, sagt Fann und lacht. „Es eignet sich also auch, um Kinder zu zeugen.“ Zum Brüten sei das Paar aber nicht im Liebesnest geblieben.

Tschaktschaktschaktschak

Fann legt die Machete beiseite, um einen Schluck zu trinken. Wenn er mit Bands durch fremde Länder tourt, hält er nach Forstwerkzeugen Ausschau. Eine ganze Macheten-Sammlung sei so zustande gekommen. „Meine liebste stammt aus Finnland“, sagt er. Dann schnappt er sich den nächsten Akazienast – „mit diesem Holz hat Noah die Arche gebaut“ – und schlägt tschaktschaktschaktschak die Zweige ab.

Etwa 500 Äste benötigt Fann für einen Mehrpersonenhorst. Heute hilft ihm ein Assistent beim Sammeln. Es kann dennoch bis zu einer Woche dauern. „Am liebsten baue ich mit Eukalyptus, der riecht gut und hält sich lange“, sagt Fann. Hat er die Äste und Zweige von Blättern befreit, wuchtet er sie auf den Anhänger seines schwarzen Pickup-Trucks. Zweimal muss er mindestens fahren, bis genug Nestmaterial zusammengetragen ist.

Früher habe er mit der Konstruktion in seinem Studio begonnen, sagt er. Die Nester wurden schnell zu groß. Jetzt flicht Fann das Fundament meist schon auf der Ladefläche. Dazu parkt er seinen Truck auf einem Parkplatz an der Serpentinenstraße, die entlang der Klippen führt. Die Aussicht sei so schön. Vermutlich kennt ihn auch deswegen jeder in Big Sur. „Dort zu bauen ist bestimmt illegal. Aber die Polizisten grüßen mich immer freundlich.“ Der Nestbauer fertigt Skizzen an, die endgültige Form des Nests ergibt sich erst während des Flechtens. „Die Natur hat die Richtung vorgegeben. Ich muss nur noch alles zusammensetzen.“ Steht das Fundament, fixiert er dessen Äste mit diskret platzierten Metallschrauben. Zum Herunterheben benötigt er Kran oder Gabelstapler. Ist die tonnenschwere Holzbasis an ihrem Platz, beginnt die Feinarbeit: Aus Zweigen entsteht eine Spiralform. Das eigentliche Nest.

Wie Gestecke sehen sie aus

Mindestens 60 Nester hat Jayson Fann in seinem Leben schon gebaut. Als Junge verwandelte er den großen Einbauschrank in seinem Kinderzimmer in Omaha, Nebraska, mithilfe von Stöcken und lebendigen Eidechsen in eine bewohnbare Waldlandschaft. Sogar einen Wasserfall legte er an. Da sei seiner Mutter kurz der Kragen geplatzt, sagt er: „Obwohl mein Zimmer keinen bleibenden Schaden genommen hat.“

Weil er in der Schule nicht gut zurechtkam – „ich trommelte mit allem, was mir in die Finger kam“ –, zog seine Mutter mit ihm nach Kalifornien. Dort gab es alternative Schulprojekte. Fann studierte biologische Landwirtschaft, spielte in Bands und arbeitete mit Künstlern. In den 90ern gab er Workshops an Big Surs Esalen Institut, einer Fortbildungseinrichtung für New Ager, in der auch schon Ansel Adams und Joan Baez lehrten.

Kollegen von damals schwärmen noch heute davon, wie der junge Fann das Buffet fürs Abendessen mit Blumen und Ästen schmückte. Als im Institut ein Konzert stattfinden sollte, das Budget aber nicht für die Deko reichte, musste er sich etwas einfallen lassen. Fann ging in den Wald und kam mit gesammeltem Holz zurück. Wie ein Webervogel bog er die Zweige zu einer großen Kugel: Fertig war das „Spirit Nest“. Heute sehen seine Nester eher aus wie die Gestecke, die Laubenvogelmännchen während der Balz errichten. Mit Ästen, die wie Strahlen in alle Richtungen zeigen.

10.000 Dollar kostet ein Nest

Adlergleich ist der Blick ins Freie
Adlergleich ist der Blick ins Freie

© Jessica Braun

Ein besonders schönes, fast fünf Meter hohes Exemplar steht im Garten eines Wohnhauses im Städtchen Carmel. Es hat zwei Stockwerke, die um den Stamm eines riesigen Baumes herumgewoben sind. Fann hat es mit den Kindern der Familie entworfen. 10 000 Dollar kostet so eine Arbeit. Dafür kommt der Nestbauer auch in den Jahren nach dem Bau ab und zu vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Das Untergeschoss haben die Kinder mit Bank, Hocker und Tisch eingerichtet. An der Wand aus armdicken Ästen lehnt ein Schild: „Hagrids Hütte“ hat jemand hineingeritzt.

Der hünenhafte Hausmeister aus den Harry-Potter-Romanen müsste sich vermutlich ducken, um durch die Öffnung zu passen. Jayson Fann, ebenfalls hoch gewachsen, kann aufrecht in seinem Nest stehen. Nachdem er überprüft hat, ob die Schrauben des Fundaments noch sitzen, klettert er die Leiter hinauf in den oberen Kogel. Dort liegt eine Matratze mit ein paar Kissen darauf. Das warme Holz des Nests riecht staubig. Spinnweben hängen zwischen den Ästen. Durch die Ritzen fallen Lichtstrahlen. Aus drei Metern Höhe hat man einen perfekten Blick über den Garten – ohne selbst gesehen zu werden.

Die Liebe zu Bäumen hat der Mensch vom Schimpansen geerbt

Astwerk sind Dass man sich in Fanns Nestern sofort wohlfühlt, könnte in der menschlichen Entwicklung begründet liegen. Gorillas und Schimpansen, die nächsten Verwandten des Menschen, sind begabte Nestbauer. Jeden Abend richten sie sich auf dem Boden oder in Astgabeln ein vergängliches Zuhause ein. Evolutionspsychologen vermuten, dass wir von ihnen die Liebe zu Bäumen geerbt haben. Umgeben von Astwerk sind wir zufriedener, kreativer. Laut Studien sogar gesünder.

Fann erzählt von einem Tag im Zoo von Garden City, Kansas. Er hatte dort eines seiner Nester gebaut und war umringt von Kindern. Zu viele, um sie alle hineinklettern zu lassen. „Ich erklärte ihnen, es sei noch nicht fertig. Aber da saß schon ein Junge drin. Natürlich wollten die anderen wissen, warum ich für ihn eine Ausnahme mache. Also sagte ich, er sei mein Assistent.“ Was Fann nicht wusste: Die Großeltern des Jungen suchten bereits voller Sorge im ganzen Zoo nach ihrem Enkel. Der litt an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, weil seine Mutter in einem Hotelzimmer ermordet worden war. Der Junge hatte die Tat mitansehen müssen – und seitdem Angst vor geschlossenen Räumen. „Mein Nest war der letzte Ort, wo seine Großeltern ihn vermutet hätten“, erzählt Fann „Aber er war sehr vergnügt und wollte gar nicht mehr herauskommen.“

Jessica Braun

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