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Christian Ude.

© dpa

Oberbürgermeister von München a.D.: Christian Ude, der Rote Baron

Eine Ewigkeit war Christian Ude Oberbürgermeister von München. Am Mittwoch endete seine Ära. Was hat den Sozi im schwarzen Bayern so beliebt gemacht? Der Chefredakteur der Münchner Abendzeitung geht einem Phänomen auf den Grund.

Da geht nun also ein Politiker aus München nach 20 Jahren in den Ruhestand. Na und? Juckt das irgendwen?
Oh ja.
Bitte, wir reden hier nicht über irgendeinen Provinzheini. Wir reden über den Münchner Oberbürgermeister, einen Mann, der einmal im Jahr weltberühmt wird. Der immer am letzten Samstag im September in der Tagesschau zu sehen ist. Dann hält er in der linken Hand einen riesigen Holzschlegel, drischt damit auf ein Bierfass ein und brüllt in das Mikro eines Reporters: „Ozapft is!“
So kennen die Deutschen, so kennen auch die Zuschauer in Afyonkarahisar und in Budjonnowsk den Kommunalpolitiker Christian Ude, und deshalb wird die Welt spätestens bei der Wiesn 2014 registrieren, dass in München jetzt ein anderer regiert. Es handelt sich um einen etwas trüben Verwaltungsmenschen namens Dieter Reiter. Dem traut keiner die Virtuosität Udes am Bierfass zu, aber wer weiß, vielleicht wächst er mit seinen Aufgaben.
Überhaupt kann sich in München noch niemand so recht vorstellen, dass im neugotischen Rathaus am Marienplatz tatsächlich ein anderer regieren könnte als Christian Ude; viele erwachsene Münchner haben noch keinen anderen Oberbürgermeister erlebt als ihn. So wie viele Deutsche in den 90er Jahren kaum glauben konnten, dass es auch andere Bundeskanzler geben kann als Helmut Kohl.

Liegt es am Schnauzbart? Oder an der nöligen Stimme?

Warum war dieser Mann so populär? Warum wurde er mit Traumergebnissen (bei seiner letzten OB-Wahl 2008 mit 66,8 Prozent) immer wieder gewählt? An seinem Schnauzbart und der professoralen, etwas nöligen Stimme, mit der er je-de Sil-be betont, kann es nicht liegen.

Nun, die langweilige Erklärung ist, dass die Menschen wohl recht zufrieden waren mit der Entwicklung, die ihre Stadt genommen hat. In München ist der Wohnungsmarkt außer Rand und Band, aber das ist eigentlich das einzige richtige Problem. Wer auf Udes Webseite die Rubrik „Meine Erfolge“ anklickt, muss ungefähr zwei Meter nach unten scrollen, um währenddessen zu erfahren, dass die Verschuldung viel niedriger ist als vor seinem Amtsantritt, der Nahverkehr top ausgebaut wurde, sich beim Tourismus die Zahlen verdoppelt haben und Ähnliches mehr. Sogar seine Gegner geben zu, dass diese Bilanz nicht unwahr ist. Der Slogan von Udes Nachfolger Dieter Reiter bei der Wahl im März hieß: „Damit München München bleibt“. Er hätte auch schreiben können: „Damit alles so wie bei Ude bleibt“.
Andererseits: Mit politischem Erfolg allein lässt sich die Beliebtheit Udes nicht erklären, zumal ein paar Misserfolge schon auch dabei waren. (So konnte er beispielsweise nicht verhindern, dass die Stadt in ihrem Neubau-Wahn mit gesichts- und mutloser Investorenarchitektur zugemüllt wurde.) Nein, wer dem Phänomen auf den Grund gehen will, muss noch einmal auf die Wiesn, zum Anzapfen, in die Prominenten-Box, wo sich die in Tracht kostümierten Honoratioren der Stadt zuprosten, und wo man glaubt, im Bayern-Roman „Erfolg“ von Lion Feuchtwanger gelandet zu sein. An keinem Ort lässt sich die Widersprüchlichkeit Udes besser beobachten – ein Wesenszug, der stark zu seiner Strahlkraft als Politiker beigetragen hat.

Es ist das Jahr 1993, auf dem Podest neben dem Bierfass steht ein 46-jähriger Schwabinger Intellektueller. Er trägt Hemd und Krawatte, die schwarzen Haare stehen weit ab; der Mann passt in das riesige Bierzelt ungefähr so gut wie Waldemar Hartmann ins Lyrik-Kabinett. Es ist der gelernte Journalist und Prädikatsjurist Christian Ude, der sich als Linker bei den bayerischen SPD-Granden unbeliebt gemacht und als listiger „Mieteranwalt“ gegen Immobilienhaie und böse Bonzen gekämpft hat. Linkshänder Ude steht unsicher auf dem Podest, er nimmt den Schlegel und schlägt zu, sechs-, siebenmal, dann ist der Wechsel endlich drin. „Aufhören, aufhören“, rufen die Leute.

Plötzlich trug er Lederhose

Christian Ude.
Christian Ude.

© dpa

20 Jahre später ist das Ambiente das gleiche, nur der Mann hat sich komplett verändert. Ude trägt Lederhose und Trachtenhemd, er strotzt vor Selbstbewusstsein. Ein paar lockere Sprüche an die Stadt und den Erdkreis, dann schlägt er kräftig zu, zwei Mal, passt. Gejohle aus dem Zelt, Ude schaut zufrieden. Die Zeitungen hatten spekuliert, ob er es diesmal nicht mit einem einzigen Schlag schaffen wollte, und Ude hatte gewohnt souverän geantwortet: Er wolle seinem Nachfolger noch Steigerungsmöglichkeiten lassen. Man könnte nun sagen: Gut, das ist eben die Entwicklung, die ein Mensch in diesem Amt nimmt. So ist es aber nicht. In Christian Ude sind multiple Persönlichkeiten angelegt, er ist gleichzeitig krawalliger Bierzelt-Matador und feinsinniger Rhetoriker, debattengestählter Kapitalismuskritiker und wirtschaftsfreundlicher Unternehmerkumpel. Er ist links, aber immer auch ein bisschen rechts. Je nachdem, welche Rolle gerade gefragt ist, switcht er um, und das Spannende an diesen Verwandlungen ist, dass Ude keine seiner Persönlichkeiten nur spielt, sondern sie in diesem Moment wirklich verkörpert. Und er kann das verdammt gut. Egal, ob er im Jüdischen Gemeindezentrum eine Grundsatzrede zum deutsch-israelischen Verhältnis hält oder bei der Handwerkskammer über Visionen seiner Mittelstandspolitik referiert oder bei der Premiere in den Kammerspielen ein paar Anekdoten aus dem Schwabing der Nachkriegszeit erzählt oder bei der Mitgliederversammlung des tragischen TSV 1860 einen hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft dieses Fußballvereins gibt: Immer ist seine Rede druckreif formuliert, mit Pointen angereichert, oft sprüht er vor Esprit und Witz. Selbst wenn Ude eine Stunde lang über die Folgen der Eurokrise auf die kommunale Finanzlage spricht, tut er das frei, ohne Manuskript, ohne Stichwortzettel, das Pult vor ihm ist einfach leer. Bei Veranstaltungen in München galt, wenn es an die Grußworte ging, für die Redner jahrzehntelang die Devise: Bloß nicht nach Ude drankommen! Seine politischen Gegner von der CSU waren auf diese enorme Begabung natürlich neidisch, weshalb sie dazu übergingen, Ude abfällig als „Kabarettisten, der sich nebenher als Oberbürgermeister versucht“, zu bezeichnen. Was Ude wiederum dazu brachte, sich tatsächlich auf die Bühne zu stellen, gerne zusammen mit Dieter Hildebrandt, Gerhard Polt und anderen Figuren aus dem bayerischen linken Wohlfühlmilieu. Seine Marcel-Reich-Ranicki-Parodie wurde in kabarettistischen Fachkreisen zumindest geduldet.

Bis heute gibt es im westlichen Schwabing, wo Ude in einem Altbau am Kaiserplatz wohnt, eine geradezu Ude-hörige verschworene Gemeinschaft aus Autoren, Musikern und Gastronomen (Konstantin Wecker gehört genauso dazu wie Ottfried Fischer und natürlich der Wirt vom griechischen Lieblingslokal des OBs) – eine Art Links-Schickeria, die sich als progressiv und gleichzeitig Bewahrer des Münchner Kulturlebens zelebriert. Ude selbst ist diese Verehrung längst nicht mehr peinlich, auch wenn er gerne auf die Zeiten verweist, als er zweiter Bürgermeister wurde – 1990 war das – und ihn in der Stadt kein Mensch kannte. Unvergessen die Anekdote, als er zum ersten Mal im neuen Amt ein Spiel im Grünwalder Stadion besuchen wollte. Udes Fahrer, ein imposanter Mann, schritt voraus und rief: „Platz da für den Bürgermeister!“ Die Ordner wichen erschrocken zurück, ließen den Chauffeur durch, blockierten danach sofort wieder den Weg und fragten den neuen Bürgermeister: „Und wer sind Sie?“ Ude: „Der Fahrer.“ In Bayern gibt es übrigens nur einen Politiker, der diese Fähigkeit zur Leichtigkeit und Selbstironie neben Christian Ude ansatzweise noch aufweist, und das ist ausgerechnet Horst Seehofer, sein übermächtiger Gegner bei der letzten Landtagswahl. Der nimmt nichts ernst, weder seine eigenen Aussagen vom Vortag noch seine Pläne für die Zukunft. Seehofer ist ein Spieler und Ironiker, und darin ist er Ude nicht unähnlich. Auch wenn der OB nicht zuletzt nach der verlorenen Landtagswahl etwas dünnhäutiger geworden ist. Dass der selbsternannte Münchner „Bürger-King“ vom CSU-Ministerpräsidenten gedemütigt wurde, packt der von 60-Prozent-Ergebnissen Verwöhnte nur schlecht.

Erst Freund, dann Fremder?

Christian Ude.
Christian Ude.

© dpa

Wenigstens konnte er das miese Resultat auf die bayerische SPD schieben, die seit Jahrzehnten auf Verlieren programmiert ist. Ein paar Prozentpünktchen hat er im Vergleich zur vorherigen Landtagswahl herausgeholt. Ude verkauft das als Supererfolg, mit der impliziten Botschaft: Wenn nicht mal ich mehr schaffe, dann könnt ihr es komplett vergessen! Wann immer es geht, verhöhnt er seine bayerischen Genossen als Schlaffis ohne Erfolgsaussichten. In einem seiner satirischen Bücher zitiert er einen Spruch, der in Münchens berühmtestem Bordell, dem „Leierkasten“, an der Tür steht: „Du kommst als Fremder und gehst als Freund.“ Beim Münchner SPD-Ortsverein, so Ude, sei es genau andersherum: „Du kommst als Freund und gehst als Fremder.“ Die fade Landtagsarbeit mit der Bayern-SPD wäre ohnehin nicht sein Ding gewesen, Opposition kam nicht infrage. Die Alternative zum Ministerpräsidenten-Job war von Anfang an: Mit dem Fahrrad durch die Stadt gondeln, Bücher schreiben, mal eine Kunstausstellung eröffnen, viel Zeit im Ferienhäuschen auf Mykonos verbringen. Der Urlaub dort war ihm immer wichtiger als alle Verpflichtungen. Jahrelang schimpfte Uli Hoeneß auf Ude, weil der keine Lust hatte, zusammen mit dem FC Bayern auf dem Rathausbalkon die Meisterschaft zu feiern und stattdessen nach Griechenland flog. Außerdem ist Ude Sechziger. Zumindest behauptet er es. In Wahrheit ist ihm Fußball wohl herzlich egal, aber mit der Underdog-Truppe TSV 1860 im Rücken kann sich Ude als Anwalt der kleinen Leute und Zukurzgekommenen präsentieren. Das war erstens nicht gelogen und zweitens wichtig für die Wahlergebnisse in Milbertshofen und Neuperlach.

Hier ist es wieder – das Widersprüchliche und gleichzeitig Versöhnliche im Wesen dieses Politikers. Vielleicht lieben die Münchner ihren Noch-OB auch deshalb so, weil die Stadt selbst voller Widersprüche steckt. Sie ist einerseits die alte Residenzstadt, die ein bisschen selbstgefällig in sich ruht. Und gleichzeitig die feierwütige Metropole mit mediterranem Flair. Eine Stadt, die so verführerisch wie verführbar ist. Ude hat es geschafft, die Extreme in Einklang zu bringen, er hat ein Klima geschaffen, in dem schwul-lesbische Initiativen aus dem Gärtnerplatzviertel prima neben Traditionshütern altbairischer Lebensart existieren und in dem jede dieser Gruppen sich von ihrem Oberbürgermeister bestens vertreten sieht. Das München der Ude-Ära strahlt großstädtische Toleranz aus. Womöglich ist das seine größte Leistung. In diesen Tagen packt er seine Sachen zusammen, bevor im Mai Nachfolger Dieter Reiter das Amtszimmer Nummer 210 im Rathaus bezieht. Journalisten wollen jetzt wissen, wie sich das denn anfühle: Aufhören, nach 20 Jahren. Denen sagt er, dass er sich freue aufs Ausschlafen, in Ausstellungen gehen, das Leben genießen. Und natürlich, sagt er feierlich „werde ich mich auf keinen Fall in die aktuelle Politik einmischen“ – Pause, treuherziger Blick – „solange im Rathaus vernünftige Politik gemacht wird!“ Breites Grinsen. So ist das mit Christian Ude. Man muss immer auf alles gefasst sein. Und gleichzeitig auf das Gegenteil. Nur Anzapfen auf der Wiesn wird er wohl nicht mehr. Vom letzten Mal gibt es aber eine Aufnahme, die man sich als Klingelton herunterladen kann. Kostenlos, von Udes eigener Homepage.

Der Autor ist Chefredakteur der Münchner „Abendzeitung“.

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