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Blick aufs Meer: das sehen die Menschen in Marseille und in Oran.

© Alekss - Fotolia

Oran und Marseille: Auf der anderen Seite

Oran in Algerien und Marseille in Frankreich sind getrennt durchs Mittelmeer und 990 Kilometer Luftlinie. Doch die Städte verbinden Geschichten von Krieg, Migration und Vertreibung. Ein Doppelporträt.

Wer im südfranzösischen Marseille seinen Kopf freikriegen möchte, steigt am besten auf den Hügel La Garde und dort auf die Terrasse der Kirche Notre Dame de la Garde. Die Einheimischen nennen das Gotteshaus auch la bonne mère, die gute Mutter. Von hier oben schaut man dann herab auf das türkis schimmernde Mittelmeer, den Hafen und die angrenzenden Stadtviertel.

Wer 990 Kilometer südwestlich im algerischen Oran seinen Kopf freikriegen möchte, steigt am besten auf den Mont Murdjadjo und dort auf die Terrasse der Kirche Santa Cruz. Dieses Gotteshaus trägt ebenfalls den Beinamen la bonne mère. Von oben schaut man dann herab auf das türkis schimmernde Mittelmeer, den Hafen und die angrenzenden Stadtviertel.

Marseille und Oran liegen anderthalb Flugstunden auseinander. Doch es braucht nicht viel, um die offensichtlichen Parallelen im Erscheinungsbild der Metropolen zu erkennen. Mehr noch sind es Biografien, die beide Städte untrennbar miteinander verknüpfen.

Jocelyne Quessada lebt in Marseille. Aber wenn sie ihre Augen schließt, muss sie sich nicht anstrengen, um ihre Heimat in Oran zu sehen. Zum Beispiel die schmale Straße, unweit vom alten Hafen im Stadtkern „La Marine“, dort hat die 73-Jährige früher gewohnt. An das Leben damals, Ende der 1950er Jahre, hat die ehemalige Lehrerin nur gute Erinnerungen, sagt sie. Jedenfalls bis zu diesem Donnerstag im Sommer 1962, als man Jocelyne Quessada auf das Boot nach Marseille zwang. Dieses Datum nennt sie den „schrecklichen Tag“.

Jetzt sitzt sie im kargen Büro der „Amicale des Oraniens à Marseille“, des Vereins der Oraner in Marseille. Am rechten Handgelenk trägt sie einen roten oranischen Reif. Er klackert laut, immer wenn sie sich ein wenig aufregt und auf den Glastisch haut.

Der 5. Juli 1962

Dieser „schreckliche Tag“, sagt Jocelyne Quessada, war der 5. Juli 1962. Nach acht Jahren Krieg zwischen der Kolonialmacht Frankreich und den einheimischen Aufständischen erklärte Algerien seine Unabhängigkeit. Mehrere hunderttausend Menschen waren da bereits umgekommen, viele wurden erschossen, durch Chemiewaffen vergiftet oder starben unter der Guillotine. Nun sannen die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront FLN auf Rache, auch in Oran. Mitten auf der „Place d’Armes“, dem Platz der Waffen mit dem Pariser Obelisken, der für den Sieg der Franzosen bei der Eroberung Algeriens steht, fand eine Massendemonstration statt.

Im Anschluss strömten etliche Teilnehmer in die Gassen der Altstadt, zu den Häusern der „Pieds Noirs“, der Schwarzfüße. So wurden die Einwanderer aus Europa genannt, weil viele von ihnen schwarze Lederstiefel trugen, als sie im 19. Jahrhundert im alten Hafen von Oran anlegten. Auch Jocelyne Quessada galt als Schwarzfuß, obwohl sie in Oran geboren wurde – ihre Eltern waren Europäer aus Andalusien. Sie hatte Glück. Viele andere wurden an diesem Tag massakriert, Jocelyne Quessada musste nach Frankreich ausreisen.

Wie Deutschland bescherte Frankreich die eigene Kriegsschuld Vertriebene, die niemand haben wollte. Vor allem nicht in Marseille. „Unser überfülltes Boot wartete einen Tag und eine Nacht vor der Küste, weil sich die Gewerkschaft weigerte, dass uns die Arbeiter in den alten Hafen ließen“, erinnert sich Quessada an ihre Ankunft. Insgesamt haben sich nach der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 hunderttausende Pieds Noirs in Südfrankreich niederlassen müssen. Einige zogen weiter ins Elsass, nach Nordfrankreich und nach Paris. Die meisten jedoch blieben am Mittelmeer. Jocelyne Quessada ist froh, in Marseille zu sein. Es sei ein kleines Trostpflaster, hier zu leben: „Es ist ja fast so wie in Oran.“ Marseilles Stadtkern „Le Panier“ sieht Quessadas alter Heimat in „La Marine“ mit ihren Hügeln, ihren schmalen, kleinen Straßen und bescheidenen bunten Häuschen tatsächlich auffallend ähnlich.

Marseille und Oran: zwischen Strandpromenaden und Sozialbauten

Jeweils rund 1,7 Millionen Menschen leben in den Metropolregionen von Marseille und Oran. Fast alle haben sogenannten Migrationshintergrund. Denn die Migrationsgeschichte beider Städte reicht noch sehr viel weiter zurück: Marseille galt seit seiner Gründung durch die alten Griechen ebenfalls als ein Hafen für Neuankömmlinge aus aller Welt; Oran wiederum als Tor vieler europäischer Einwanderer nach Nordafrika, hier siedelten bereits Spanier und Italiener, lange bevor die Franzosen 1830 als Kolonialherren auftauchten. 

In den Außenbezirken der beiden Küstenstädte, in Marseille im Norden, in Oran im Westen, ragen Sozialbauten gen Himmel. Sie sind hier wie dort, stadtplanerisch fragwürdig, für die ganz neu Zugewanderten hochgezogen worden, das bedeutet: für alle, die seit drei Generationen oder weniger dort leben. In Marseille sind das die Maghrebiner, vor allem aus Algerien. In Oran sind es Landflüchtlinge aus den Dörfern im Westen Algeriens. Die Corniche, die Strandpromenade und das Zentrum unweit vom alten Hafen wirken von den Sozialbauten in den Außenbezirken aus gesehen wie eine andere, ferne Welt. Das gilt, wie so häufig, für Oran wie auch für Marseille gleichermaßen.

Auch im Film sind beide Städte verewigt

Marseille mit seinem Wahrzeichen, der Kirche Notre Dame de la Garde.
Marseille mit seinem Wahrzeichen, der Kirche Notre Dame de la Garde.

© imago/Bluegreen Pictures

Jahrhundertelang ereigneten sich in den beiden Geschwisterhäfen schmerzvolle Trennungs- oder hoffnungsvolle Ankunftsszenen, die auf einer Seite des Mittelmeers begannen und auf der anderen Seite weitergingen. Während des „Dritten Reichs“ boten die beiden Küstenstädte tausenden Europäern einen sicheren Korridor nach Casablanca, auf ihrer Flucht Richtung USA, auf ihrer Flucht vor den Gräueltaten der Nazis und den französischen Kollaborateuren in Vichy (siehe S 7). Auch im Film ist die Bedeutung von Marseille und Oran als Transitorte verewigt: Humphrey Bogart macht als Rick Blaine hier wie dort halt, wenn auch unfreiwillig.

Ein Seniorentreff für Migranten in der historischen Innenstadt von Marseille. Es sind vor allem algerische Rentner und Witwen, die hier in den Räumen der Sozialeinrichtung „Ampil“ Tee trinken, sich behandeln oder bescheinigen lassen, dass sie noch leben. Sonst wird die Rente nicht ausgezahlt. Einige von ihnen kamen einst freiwillig zum Arbeiten nach Marseille, andere wurden, als Frankreich noch Kolonialmacht war, zur Arbeit im „Mutterland“ gezwungen.

All diese algerischen Rentner müssen nun hierbleiben, denn wer zurückgeht, verliert den Anspruch auf einen Großteil seiner Bezüge. Dabei haben sie doch ihre Familien, ihre Freunde, ihre Heimat drüben, auf der anderen Seite. So wie Hajj Tijani, ein 74-jähriger Algerier, der gerade mit Freunden Karten spielt. Er ist bereit, seine Geschichte zu erzählen. Aber nur unter falschem Namen, er will nicht, dass jemand in seiner Heimat von seiner aktuellen Lebenssituation erfährt. Dort sagt er immer, dass es ihm in Frankreich gut gehe.

Er Freund aller Pieds Noirs

1960 stieg Tijani in einen Frachter von Oran nach Marseille, zwei Jahre bevor Jocelyne Quessada aus ihrer Heimat vertrieben werden sollte. Hajj Tijani fand Arbeit auf dem Bau. „Acht Stunden am Tag, acht Tage die Woche“, scherzt er. Manchmal schuftete er auch als Tagelöhner auf den fruchtbaren Feldern des Départements Bouches-du-Rhône rund um Marseille. „Tomaten habe ich gepflückt“, er zeigt stolz auf die dicke Hornhaut an seinen Fingern. Dann habe er im Hafen ausgeholfen, beim Kistenschleppen. So wie die meisten Algerier, die nun ihre Tage in den Räumen von „Ampil“ verbringen.

Heute lebt Hajj Tijani in einem Obdachlosenheim im Industriegebiet von Marseille. Jeden Tag um 15.30 Uhr holt er sich seinen Berechtigungsschein für die Übernachtung ab. Bis dahin schlägt er bei Ampil die Zeit tot, erzählt und hört alte Geschichten und spielt Karten. Ob er lieber hier oder auf der anderen Seite des Mittelmeers sei: Er zuckt mit der Schulter. Nur auf eines legt er Wert: Seine letzte Ruhestätte soll einmal in Oran sein.

Genau dort, auf dieser anderen Seite, auf dem Friedhof Orans, beginnt ein anderer alter Algerier jeden Freitagmorgen um sechs Uhr seinen Rundgang. Heute hat sich der Nebel über den Gräbern noch nicht ganz aufgelöst, Hamidou Soualah ist trotzdem da. „Ab Mittag sind hier zu viele lebende Menschen, das stört“, sagt er und kichert, wie nach jedem zweiten Satz. Er ist ein guter Freund von Madame Quessada, als Kinder haben sie zusammen gespielt, heute mailen sie sich regelmäßig, besuchen sich auch. Überhaupt sei er ein Freund aller Pieds Noirs, aller ehemaligen Oraner, sagt er. Die solle man nicht mit den Kolonialherren verwechseln, denn die Schwarzfüße, so Soualah, seien genauso wie jeder andere Algerier gewesen: arm dran. Er kichert wieder, spricht damit aber aus, was viele Algerier denken.

Eine alte oranische Haltung.

Hamidou Soualah pflegt ein Hobby nahe am Tod. Als pensionierter Beamter kümmert er sich um die Gräber von Oran. Auf den muslimischen, auf den jüdischen, auf den christlichen Friedhöfen der Stadt. Zwischen den Grabsteinen mit Halbmond und Koransure gedenkt Soualah zunächst seiner eigenen Familienmitglieder. Der Bruder starb erst vor kurzem in der vertrauten Diaspora von Marseille, nun liegt er unter der Erde von Oran, und Hamidou Soualah zupft die Kleeblätter rund um das Grab heraus. „Als wir klein waren, da habe ich mit den Kindern der Pieds Noirs dieses Zeugs gegessen“, Madame Quessada erinnere sich bestimmt auch daran. Er kichert.

Der muslimische Friedhof von Oran ist weitläufig, ein perfekter Ort, um große Geheimnisse zu entdecken. Und so führt der allfreitägliche Weg von Monsieur Soualah zwischen den Gräbern zu einem ganz besonderen Grabstein. Hier sei nach seinen Recherchen eine Jüdin begraben. Deswegen platziert der alte Mann immer, wenn er sowieso hier ist, ein Kieselsteinchen auf dem Grab. Alte jüdische Tradition. Denn in Oran seien laut Monsieur Soualah alle monotheistischen Religionen ein Teil der Seele der Stadt. Eine alte oranische Haltung.

Yves Saint Laurent ist in Oran geboren

Oran mit seinem Wahrzeichen, der Kirche Santa Cruz auf dem Mont Murdjadjo.
Oran mit seinem Wahrzeichen, der Kirche Santa Cruz auf dem Mont Murdjadjo.

© Nacerdine ZEBAR/GAMMA/laif

Als die ersten lebenden Menschen auf dem Friedhof der Muslime auftauchen, begibt sich Monsieur Soualah zum christlichen Begräbnisort. Ein paar Bushaltestellen weiter. „Da stört den ganzen Tag niemand“, sagt er. Doch einer der letzten Pieds Noirs, der bis an sein Lebensende allein in Oran weilte, sich weigerte zu gehen, wird gerade beerdigt. Seine Nachfahren sind für einen Tagestrip von Marseille und aus Spanien nach Oran gekommen. Sie wollen, dass ihr Großonkel anonym bleibt. Er lebte zwar nicht wie Hajj Tijani in einem Obdachlosenheim, aber sie erzählen, dass er es bevorzugte, alleine in „seinem Oran“ zu leben und nicht als einer von rund einer Million Schwarzfüße in Frankreich zu sein. Dafür nahm er sogar die algerische Staatsbürgerschaft an. Es ist die erste Beerdigung seit Jahren auf dem christlichen Friedhof.

Am Nachmittag lädt Hamidou Soualah zu sich nach Hause, in seine Wohnung im Stadtteil Eckmühl. Das Viertel trägt den Namen eines elsässischen Generals aus den Anfängen der Eroberung von „Französisch-Nordafrika“. Die meisten Oraner nennen Eckmühl kurz und arabisiert „Lkmen“. Die arabischen Orts- und Straßennamen, die nach der Unabhängigkeit vergeben wurden, haben sie dagegen nie angenommen. Selbst die „Place d’Armes“ mit dem Obelisken, die seit 1962 eigentlich offiziell „place du premier novembre“ nach dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs heißt, wird von den Oranern weiterhin „Plasdarm“ genannt. Die Menschen hier seien eben hartnäckig und hätten ihren eigenen Kopf, sagt Soualah.

Man sage nicht umsonst „l’Oran“ zu dieser Stadt. Der gute Geschmack, der moderne Sinn für Rebellion, das savoir-vivre der Franzosen, das komme alles auch aus Algerien. „Sogar Yves Saint Laurent ist hier geboren.“ Soualah kichert schon wieder.

Und alles Französische, was gut ist, haben sie sich in Oran zu eigen gemacht: zum Beispiel den berühmten Pastis, ein Aperitif aus Anis, der in Marseille als heilige Tradition gefeiert und in den Küchen von Oran mit nicht weniger Patriotismus gebraut wird. Wenn gerade kein Anis da ist, brauen sie sich in Oran den Likör aus Lakritz. Die vielen Alkoholiker, die von der Stadtverwaltung von der „Place d’Armes“ in einen Park unweit vom alten Hafen verscheucht wurden, geben sich als frankofone Lokalpatrioten. Sie trinken und singen: „Oh, que la vie est belle ici!“

Nicht nur in Frankreich, auch hier wird die schmerzvolle französische Besatzungszeit von vielen schöngeredet. Dabei wird vergessen, dass die Kolonialmacht alle nichtweißen Einwohner als „indigene Algerier“ kategorisierte und systematisch diskriminierte. Sie durften nicht in den Staatsdienst, hatten keine Reisefreiheit, durften nur auf bestimmte Schulen. Unter den Verletzungen aus dieser Zeit leidet die Verbindung zwischen Marseille und Oran bis heute. Schon Frantz Fanon, der große schwarze Schriftsteller und Psychologe, hat versucht, den Kolonialismus und dessen Folgen in Frankreich und Algerien zu verstehen. Betrachtet man Marseille und Oran mit Fanons Methoden der Psychoanalyse, leidet die Beziehung der beiden Städte an postkolonialen Störungen, an Geschichtsleugnung, an einem autokratischen System, am Rassismus oder auch schlicht an der Vergänglichkeit von Baumaterialien.

„Schwarze Haut, weiße Masken“, heißt das Hauptwerk Fanons. Fassaden trügen oft.

Die kleine Straße, dort, wo einst im Hafenstadtteil „La Marine“ das Haus von Madame Quessada stand, ist nicht mehr so wie im Kopf der vertriebenen Ur-Oranerin. Seit einigen Jahren werden die Bewohner des historischen Stadtkerns nach und nach von der Verwaltung umgesiedelt. Die alten Häuser der Pieds Noirs wurden seit der algerischen Unabhängigkeit nicht restauriert. Der Putz ist schon längst abgeblättert, die Sandsteine und Fundamente zerfallen seit 20 Jahren. Keiner, weder die algerischen Familien, die nach dem Exodus der Schwarzfüße diese Häuser besetzten, noch die Politiker kümmerten sich um den Erhalt. Quessada, die mittlerweile jedes dritte oder vierte Jahr nach Oran reist, hat nur Verachtung dafür übrig: „Wir haben denen Häuser, Hospitäler, Häfen gebaut – und sie lassen alles verfallen.“

Wie Jocelyne Quessada drücken viele Pieds Noirs ihre Wut gegen Algerien nach dem „schrecklichen Tag“ im Juli 1962 mit Wahlkreuzen für den rechtsextremen Front National aus. Monsieur Soualah, der ehrenamtliche Friedhofspfleger, hat sogar Verständnis für die politische Überzeugung der meisten Schwarzfüße. In Oran würden sich die Flüchtlinge, die Zugezogenen aus den Dörfern im Westen Algeriens, schließlich „auch unmöglich verhalten“. So findet jeder einen, auf den er runtergucken kann. Hier wie dort.

Diese Recherche wurde ermöglicht mit einem Stipendium des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg und der Robert-Bosch-Stiftung.

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