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Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe

© Mike Wolff

Paläoanthropologe im Interview: „Ich hätte gerne mal in der Steinzeit gelebt“

Friedemann Schrenk erforscht Flüchtlingswege aus Afrika – die der Mensch vor Millionen Jahren wählte. Ein Gespräch über knappe Ressourcen, menschliche Maßlosigkeit und die Paläo-Diät.

Von Barbara Nolte

Friedemann Schrenk, 59, lehrt an der Frankfurter Goethe-Universität und leitet die Sektion Paläoanthropologie der Senckenberg Gesellschaft. In den 90ern entdeckte er den 2,5 Millionen Jahre alten Unterkiefer einer bis dahin unbekannten Menschenart: den Homo rudolfensis. Zuletzt suchte er in Georgien nach Fossilien

Herr Schrenk, in letzter Zeit sind alle paar Monate irgendwo auf der Welt Überreste von Urmenschen entdeckt worden, die die Erkenntnisse Ihrer Wissenschaft auf den Kopf stellten.

Das halte ich für übertrieben. Aber natürlich ist da was dran: Je mehr wir finden, desto weniger wissen wir.

Ein Beispiel: In China sind Forscher auf 47 Zähne gestoßen. Der Fund beweist, dass Homo sapiens erst Asien besiedelte, bevor er nach Europa kam.

Für mich ist das Interessante an den Zähnen, dass sie von Menschen afrikanischen Ursprungs stammen. Die chinesische Staatslehre lautete bis dahin, dass die moderne Menschheit in China entstanden sei. Früher hieß es auch bei uns: Die Menschen haben ihren Ursprung in Europa. Wo denn sonst? Afrika kam als Wiege der Menschheit gar nicht in Frage.

Gibt es in Ihrem Fach überhaupt irgendwelche Gewissheiten?

Ja, die Menschwerdung begann vor etwa sieben Millionen Jahren mit dem aufrechten Gang. Wir haben in den letzten Jahrzehnten begriffen, dass es keine lineare Entwicklung hin zum Homo sapiens gibt. Der Stammbaum, wie er in Biobüchern abgebildet ist, ist in Wahrheit ein Geflecht: Entwicklungslinien, die sich verzweigen. Andere, die zusammenlaufen. Eine Vielzahl von Menschengruppen existierte zur selben Zeit.

Sie selbst haben in den 90er Jahren in Malawi eine neue Menschenart entdeckt: den Homo rudolfensis. Muss man, um eine Karriere als Paläoanthropologe zu machen, einmal so etwas Spektakuläres gefunden haben?

 Kopie eines Schädel Homo rudolfensis, 2,4-1,8 Millionen Jahre alt, im Neanderthal Museum, Mettmann
Kopie eines Schädel Homo rudolfensis, 2,4-1,8 Millionen Jahre alt, im Neanderthal Museum, Mettmann

© imago stock&people

Es wäre leichtfertig, auf eine solche Entdeckung zu spekulieren, um eine Karriere darauf aufzubauen. Macht auch keiner. Zu einem Hominiden-Fund gehört neben guter Planung auch viel Glück.

Sie graben nach Fossilien …

… nein. Wir suchen jeden Quadratzentimeter der Oberfläche ab. Liegt ein Fossil zwei Zentimeter unter der Erde, sehen wir es nicht. Es kann sein, dass es in 50 Jahren herauswittert oder schon vor 100 Jahren herausgewittert und in der Zwischenzeit komplett zerfallen ist.

Sind Sie die ganze Zeit auf den Knien?

Was soll ich auf den Knien?

Näher dran sein, um nichts zu übersehen.

So groß bin ich nicht.

Gibt es eine Arbeitsteilung: Die Grabungshelfer suchen, und die Professoren katalogisieren die Funde?

Mein Vorvorgänger hier bei Senckenberg saß noch unterm Sonnenschirm und hat sich die Fundstücke bringen lassen. Das machen wir schon lange nicht mehr so. Auch, weil wir wissen wollen, wo exakt die Fossilien herkommen.

Warum haben Sie ausgerechnet in Malawi gesucht?

Im östlichen und im südlichen Afrika waren zuvor bereits Fossilien von Hominiden gefunden worden. Wir waren davon überzeugt, dass Menschen von der einen in die andere Region gezogen sein müssten. Wir überlegten uns eine Route, die sie genommen haben könnten – einen Hominidenkorridor. Wir konzentrierten unsere Suche auf ein 70 Kilometer langes und zehn Kilometer breites Gebiet in Malawi. Im Norden haben wir angefangen und uns zehn Jahre lang nach Süden vorgearbeitet. Wir haben Fossilien von allen möglichen Tieren gefunden. Kollegen hatten schon gescherzt, das sei kein Hominiden-, sondern ein Giraffen- und Elefanten-Korridor. Ganz im Süden hat einer unserer Grabungshelfer schließlich den Kiefer gefunden. Er ist eines der ältesten Fundstücke der Gattung Mensch: 2,5 Millionen Jahre alt.

Von einem Paläoontologen, der das Skelett eines Tyrannosaurus rex gefunden hat, berichtete seine Ehefrau, dass er freundschaftliche Gefühle für sein Fossil empfand. Haben Sie ein besonderes Faible für den Homo rudolfensis?

In keinster Weise.

Wie war er denn so?

Wir denken, dass der Homo rudolfensis ein guter Läufer war. Hinweise darauf, dass er noch klettern konnte, haben wir nicht. Diese Frühmenschen haben damals die Savannen besiedelt. Ich glaube, dass ihre Hauptfähigkeit darin lag, zu kooperieren, ein soziales Gefüge auszubilden.

"Dass Männer aggressiver sein sollen, weil sie die Jäger waren, geht mir zu weit"

Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe
Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe

© Mike Wolff

Bis heute werden mitunter Geschlechterrollen mit den vermeintlichen Gewohnheiten unserer Vorfahren begründet. Im Sinne von: Der Mann jagt, die Frau macht den Haushalt. Gibt es überhaupt Anzeichen, dass es damals diese Aufteilung gab?

Die Kinder mussten gesäugt werden, weil es keine andere Nahrung für sie gab. Schon deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Frauen wie Männer gleichberechtigt auf die Jagd gegangen sein sollen. Beweisen kann ich das nicht. Die ältesten Speere sind 400 000 Jahre alt. Wie genau sich die Menschen bei der Jagd organisiert haben, kann ich den Speeren nicht ansehen. Dass Männer aggressiver sein sollen, nur weil sie wahrscheinlich die Jäger waren, wie es manchmal heißt, geht mir zu weit.

Das ärgert Sie als Mann?

Nicht als Mann. Das ärgert mich als Paläoanthropologe. Da wird viel reininterpretiert in unsere Wissenschaft.

Auch Sigmund Freud bezog sich in seinem Menschenbild auf die „Urhorde“. Sie habe unter der Herrschaft eines tyrannischen Männchens gestanden, das alle Frauen für sich beanspruchte.

Die Beobachtung kommt aus der Primatenforschung. Bei den Schimpansen versuchen die Männchen, die Weibchen zu monopolisieren. Dazu drohen die Männchen einander mit ihren großen Eckzähnen. Zu Beginn der menschlichen Entwicklung wurden die Eckzähne aber kleiner. Wenn sich in der Evolution ein Merkmal reduziert, bedeutet das, dass es keinen Selektionsvorteil mehr darstellt. Die Eckzähne wurden von männlichen Hominiden nicht mehr für Dominanzgebärden eingesetzt. Es muss ein anderes Sozialgefüge gegeben haben. Ich fühle mich jedenfalls nicht angesprochen von einer Zuschreibung, die auf einem Aggressionsmerkmal beruht, das es seit fünf Millionen Jahren nicht mehr gibt.

Und die Frauen damals, kochten die denn nach den Rezepten der Paläo-Diät? Unter dem Etikett gibt es gerade einen Hype um steinzeitliche Nahrung, die besonders gesund sein soll.

Ich glaube, dass die frühen Menschen frisch gerissenes Aas gegessen haben. Dazu brauchten sie bloß Raubtiere von ihrer Beute wegzutreiben. Das ist relativ einfach, wenn man als Gruppe auftritt.

In der Paläo-Diät wird alles Getreide aus dem Speiseplan gestrichen, weil es das damals noch nicht gab. Großer Unsinn?

Nein, genau das finden wir Paläoanthropologen gut an der Paläo-Diät. Diese Kohlenhydrat-Bomben, mit denen wir uns heute ernähren, waren die Antwort darauf, dass unsere Vorfahren vor 10 000 Jahren anders nicht satt zu bekommen waren. Die Menschen hatten sich vorher stark vermehrt. Deshalb wurde Getreide angebaut. Bei Schädeln, die älter als 10 000 Jahre sind, ist das Gebiss noch ziemlich in Ordnung. Später nicht mehr. Gute Fette und Proteine sind gesünder als Kohlenhydrate, aber teurer. Die Paläo-Diät ist etwas für Leute mit Geld. Wenn in Afrika eine Hungersnot ausbricht, werden nicht Proteine oder Fett geliefert, sondern Säcke mit Mais vom Lastwagen geworfen.

Worauf fußen Ihre Schilderungen? Von der Steinzeit sind ja nur ein paar Knochen, Zähne und Werkzeuge übrig …

Wir bilden Hypothesen, die logisch sein müssen. Wir fragen nicht: richtig oder falsch? Sondern: wahrscheinlich oder unwahrscheinlich? Dabei fließt immer das eigene Weltbild mit ein. Die 60er waren geprägt vom Kalten Krieg. Da wurden Funde häufig darauf getrimmt, Aggression als zentralen Wesenszug des Menschen herauszustellen. In den 70ern war die Hauptforschungsrichtung die Rolle der Frau in der Evolution. Und wissen Sie, wofür wir heute Forschungsgelder bekommen? Wenn im Antrag das Wort Klima drinsteht. Forschungsfragen sind nie wertfrei.

Wie bekommt man denn in einem Forschungsantrag zu frühen Menschen halbwegs sinnvoll das Wort Klima untergebracht?
In einem Projekt rekonstruieren wir mit Archäologen und Experten für fossile Pollen und Tiere die Lebensräume der Menschen in der Steinzeit. Die sind klimatisch bedingt. Klimaveränderungen setzten Evolutionsprozesse sogar in Gang. In Afrika wurde es beispielsweise vor ungefähr 2,5 Millionen Jahren trockener, die Früchte bekamen härtere Schalen. Es gab zwei Hominiden-Gruppen, die verschiedene Lösungen für das Problem hatten. Den einen wuchsen riesige Zähne. Das waren die sogenannten Nussknackermenschen. Und die anderen haben das Werkzeug erfunden.

"Krieg und Gewalt fingen vor ungefähr 10000 Jahren an"

Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe
Friedemann Schrenk, Paläoanthropologe

© Mike Wolff

Sie haben später in Malawi auch einen Kiefer eines Nussknackermenschen gefunden.

Ja, Homo rudolfensis und Nussknackermensch lebten zur selben Zeit in derselben Region. An den beiden Funden kann man sehen, wie die Evolution zwei verschiedene Wege eingeschlagen hat. Bei der Entstehung des Nussknackermenschen wurde Information auf biologischem Weg über die Gene weitergegeben. Die Entwicklung einer neuen Art dauert mindestens 10 000 Generationen. Homo rudolfensis hingegen stieß die kulturelle Evolution an, deren Potenzial ist, dass sich Information durch Nachahmung und Sprache schneller weitergeben lässt. Die Steinwerkzeuge waren die ersten externen Informationsspeicher. Die Art und Weise, wie sie gefertigt waren, sagte etwas darüber aus, wofür sie benutzt werden mussten. Damit begann die Unabhängigkeit des Menschen von der Natur und zugleich seine Abhängigkeit von der Technik.

Es kursiert ein paradiesisches Bild vom steinzeitlichen Leben. Nahrung gab es im Überfluss.

Bis vor 10 000 Jahren lebten noch sehr wenige Menschen in kleinen Gruppen auf der Erde, dafür viele Tiere und essbare Pflanzen. Auch Hierarchien wurden erst notwendig, als die menschlichen Gemeinschaften stark angewachsen waren, und das Zusammenleben organisiert werden musste. Also, ich hätte gerne damals gelebt, jedenfalls eine Zeit lang.

Entweder heißt es: Zu Anbeginn der Menschheit herrschte Krieg aller gegen alle, seitdem wird es besser. Oder: Damals war ein goldenes Zeitalter, seitdem wird es schlechter. Die Steinzeit wird herangezogen, um – je nach Weltanschauung – zu begründen, dass Zivilisation etwas Gutes oder Schlechtes ist. Man nimmt eine lineare Entwicklung an.

Die gibt es nicht. Nach unserer Kenntnis fingen Krieg und Gewalt vor ungefähr 10 000 Jahren an.

In der aktuellen Ausgabe von „Nature“ wird von 10 000 Jahre alten Knochenfunden aus Kenia berichtet. Sie gehören zu 27 Menschen, die niedergemetzelt worden waren. Die Entdeckerin schließt daraus, dass Kriegsführung bereits zum „Repertoire der Beziehungen von Jägern und Sammlern“ gehört habe.

Vor10 000 Jahren, das war die Zeit, in der sich die Menschen stark vermehrt hatten. Alle Lebensgrundlagen waren ausgebeutet, was zu sozialen Spannungen führte. Das ist alles noch nicht lange her: keine 400 Generationen.

Dann ist Aggression Ihrer Ansicht nach kein grundlegender Wesenszug des Menschen?

Nein. Aggression entsteht, wenn viele Homo sapiens an einem Ort leben und um Ressourcen konkurrieren. Es gibt immer mehr Homo sapiens und immer weniger Ressourcen. Und die Ressourcen sind heute ungleich verteilt. Europa ist ein Kontinent, in dem Wohlstand herrscht. Da ist es doch klar, dass aus anderen Kontinenten, wo das nicht so ist, Homo sapiens herkommen. Ich wundere mich, dass sich da jemand darüber wundert.

Nachbildung einer Neandertalerin im Neandertal Museum in Mettmann.
Nachbildung einer Neandertalerin im Neandertal Museum in Mettmann.

© dpa-Bildfunk

Sie befassen sich auch mit den Ausbreitungsrouten der frühen Menschen aus Afrika. Beeinflusst das Ihre Sicht auf die aktuellen Flüchtlingswege, die in dieselbe Richtung verlaufen?

Was ich noch nie verstanden habe, ist, dass man auf den Bereich, in dem man lebt, schaut und sagt: Das ist mein Lebensraum. Der gehört mir. Da kommt niemand rein. Aus der Sicht eines Paläoanthropologen ist das noch absurder. Ich lebe in Frankfurt. Dort leben auch viele andere Menschen. Aber ich bin mit Homo sapiens überall auf der Welt verknüpft. Davon kann ich mich nicht freimachen. Menschen werden sich vermischen. Sie werden sich ausbreiten. Natürlich dorthin, wo Ressourcen sind. Das ist schon immer so passiert.

Denken Sie mitunter: Was ist nur aus uns geworden?

Natürlich. Wir Menschen erheben uns mehr und mehr über den Rest der Natur. Die Natur ist uns oft ziemlich egal. Wir sehen nicht, dass wir uns unsere eigene biologische Anbindung nehmen, die wir zum Überleben brauchen. Aber es gibt ja auch die andere Seite der Medaille: die kulturelle Evolution. Unsere Intelligenz führt nicht nur zu List und Täuschung, sondern auch zu Kunst und Wissenschaft.

Bis vor Kurzem wurde der Neandertaler von der Wissenschaft als Keule schwingender Kerl dargestellt. Aktuelle Publikationen betonen dagegen, dass er dem modernen Menschen nicht unterlegen sei. Man will offenbar den Neandertaler nicht diskriminieren.

Natürlich sind wir Menschen heute dem Neandertaler überlegen. Wir haben Medizin, Musik, Kunst. In dem Sinne sind wir auch den Dinosauriern überlegen. Aber die Dinosaurier haben 140 Millionen Jahre lang die Erde beherrscht. In der Paläontologie sprechen wir davon, dass eine Art erfolgreich ist, wenn sie lange überlebt. Das trifft auch auf den Neandertaler zu. Er lebte eher mit den Ressourcen im Einklang, was man von uns nicht behaupten kann. Das kann man auf allen Kontinenten sehen, die von modernen Menschen besiedelt wurden: Innerhalb kürzester Zeit waren alle möglichen Tiere ausgerottet. Das war der Overkill. Der Mensch hat das Problem, dass er

denkt, es gibt endlos Nachschub für alles.

Glauben Sie, das ist uns von früher eingeschrieben?

Kann sein. Wenn im Unterbewusstsein etwas übrig sein sollte aus der Steinzeit, dann ist das nicht der Affe in uns, sondern die Vorstellung von unendlichem Nachschub. Inzwischen ist der Nachschub nicht mehr unendlich, aber es gibt Menschen, die sich trotzdem Nachschub kaufen können – und andere eben nicht.

Warum haben wir alle anderen Menschenarten überlebt?

Uns zeichnet eine enorme Vielfalt aus: kulturell, aber auch anatomisch. Das macht uns anpassungsfähiger als andere. Und diese Vielfalt ist gerade nicht eine Folge von Isolation, sondern von Vermischungen. Wenn Homo sapiens sich weiter entwickeln möchte, dann geht das sicher nicht durch Abschottung.

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