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© dpa

22. Januar 2010: Tag 5: Überleben, irgendwie

Ein Junge schreit, weil sein Fuß aufgeschnitten ist, eine Frau vermisst seit dem Beben ihren Mann, ein Krankenhaus, das Risse hat – und Menschen, die Mut machen. Einer sagt: "Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung."

In der Nacht hat es zu allem Überfluss geregnet. Der Boden ist an manchen Stellen noch nass, als von oben schon wieder die Sonne brennt. Ein Mann mit bandagiertem Bein hat sich ein Englischbuch aufs Gesicht gelegt, schirmt sich ab von der freundlichen Helligkeit, die nicht passt zu dem, was ihn umgibt.

Ein Zehnjähriger sitzt auf einer Bank. Er hat einen aufgeschnittenen blutenden Fuß und schaut entsetzt darauf, bis ihm jemand die Augen verdeckt, und er sein tränenüberströmtes Gesicht auf die Bank drückt. Mama!, ruft er.

Ein paar Meter weiter liegt in einem kleinen Gitterbett eine Vierjährige mit Oberschenkelbruch. Damit sich der kleine Körper nicht verdreht, sind ihre beiden Beine hochgezogen – als Gegengewichte dienen gefüllte Wasserflaschen.

Das Mädchen hat ein Herz erobert. Das ihres Operateurs, das Herz von Bernd Domres, 70, emeritierter Professor aus Tübingen, der deutsche Katastrophenmediziner schlechthin. Ganz fantastisch halte sich die Kleine, sagt er. Domres ist anzutreffen überall, wo es furchtbar ist: in den 70er und 80er Jahren in Kambodscha, Nigeria, im Libanon, in Pakistan, 1988 war er in Armenien, in den 90ern in Iran, Kroatien, in Peru, Ruanda, Kongo. Er war als einer der Ersten nach dem Erdbeben im italienischen L’Aquila und saß zwei Tage nach dem Beben von Haiti im Auftrag von Humedica im Flugzeug Richtung Karibik. Den Job hier nennt er eine besondere Herausforderung, weil mit der Hauptstadt auch die Zentren jeglicher Verwaltung zerstört wurden. Es geht wenig in Haiti.

Eine Woche nach dem Beben säumen selbst die Hauptstraßen noch unzählige in sich zusammengesackte Häuser, durchsuchen die Menschen mit bloßen Händen die unwirklich weiß erscheinenden Trümmer. Offiziell ist die Suche nach Überlebenden inzwischen eingestellt worden. Die Überlebenschancen sind zu gering. Jetzt gilt es, die Leben der Verletzten zu retten.

Doch auch das ist am Mittwoch noch einmal schwerer geworden. Am Morgen des 20. Januar beendete ein schweres Nachbeben die Hoffnung der Menschen, sie hätten das Schlimmste hinter sich. Auch die Ärzte und Helfer von Humedica, die in einer amerikanischen Schule übernachten, waren sofort hellwach und rannten raus. Sie blieben unverletzt, auf der Straßenseite gegenüber sahen sie ein Haus zusammenfallen, und als sie an ihrem Wirkungsort ankamen, dem kleinen Krankenhaus „Hopital Espoir“, Hospital der Hoffnung, wo 100 Schwerverletzte untergebracht sind, erschraken sie. Zwar sah der Altbau intakt aus, aber der Neubau hatte Risse, die Pfeiler wirkten instabil. Also liegen seit Mittwochvormittag 35 Patienten im engen Hof im Freien. Eine Frau versucht gerade, sich aufzurichten, sie liegt mit geschientem Bein auf einer Matratze in der Einfahrt, hinter ihr bauen Helfer ein Zelt auf, andere sind unter kleinen Markisen untergebracht. „Es ist gruselig, wirklich gruselig“, sagt Humedica-Koordinatorin Simone Winneg.

Ab 18 Uhr kehrt Ruhe ein. Die UN haben die Empfehlung herausgegeben, im Dunklen nicht mehr auf den Straßen zu sein. Abends sitzen Bernd Domres und seine Kollegen dann zusammen vor der Schule, die ihr Quartier ist, drinnen summen Computer, die ihnen den Kontakt zum Rest der Welt ermöglichen.

Sie teilen sich das Schulgelände inzwischen mit dem US-Militär, das seine Kommandozentrale hier aufbauen will, ab dem Sportplatz ist das Gelände bereits in US-Befehlsgewalt übergegangen. Die Mediziner sehen das mit gemischten Gefühlen, aber vorerst wollen sie bleiben. Eine so sichere Unterkunft werden sie kaum anderswo finden.

Viele von ihnen legen nachts ihre Isomatten nach draußen auf die Wiese vor dem Haus, das Misstrauen Gebäuden gegenüber ist groß auch bei denen, die das Beben nicht erlebten. Und tagsüber gilt die Devise: Pass, Ticket und Geld immer dabeihaben – denn im Falle eines Falles kommen sie vielleicht nicht mehr in ihr Quartier zurück.

Schulmitarbeiter Jean will von den großen Gefahren in Port-au-Prince gar nichts wissen. Alles nicht so schlimm, alles halb so wild, wiederholt er gern und häufig. „Da gibt es viele Missverständnisse“, versichert der quirlige Mann in blauen Bermudas, mit Funkgerät hinten am Gürtel. Da laufe auch keiner mit Macheten rum, man könne hingehen, wohin immer man wolle. In der Tat macht sich tagsüber eine gewisse Normalität breit. Am Flughafen, der zu einer riesigen internationalen Zeltstadt gewachsen ist, verkaufen Souvenirhändler UN-Blauhelmfiguren aus Holz, schiebt sich eine Frau mit einer Schubkarre voller Sandwiches durch die auf dem Rasen wartende Menge. In den Straßen fahren die bunten Sammeltaxen mit Segenssprüchen und Voodoozeichen, die sie hier Tatap nennen, es gibt wieder Benzin, wenn sich auch an den Tankstellen lange Schlangen bilden.

Doch dann sind da diese Hilferufe. „We need help“ haben Menschen auf Bettlaken geschrieben und sie an Straßenecken aufgehängt, mit Adresse oder Telefonnummer. Dann ist da die Schlange vor der kanadischen Botschaft, alles Ausreisewillige. Und es gibt die Busse, die im Auftrag der haitianischen Regierung Flüchtlinge in die unversehrten Teile des eigenen Landes bringen.

Alinx Jean Baptiste, Haitianer und Landeskoordinator der Deutschen Kindernothilfe, die in Port-au-Prince ein Büro hat, hält von dieser Maßnahme der Regierung nicht viel. Präsident René Préval lebe, aber er sei überfordert, sagt er. Und: Da draußen sind nur noch 2000 Polizisten, aber 3000 Diebe, die aus den ja ebenfalls eingestürzten Gefängnissen geflohen sind. „Die sind pleite“, sagt er, die hätten Hunger, und die wüssten, wie man sich nimmt, was man braucht, auch wenn es einem nicht gehört. Baptiste, 39, Bauingenieur mit Abschluss der Fachhochschule Hannover, ein hochgewachsener Mann, die Sonnenbrille in die Haare geschoben, ist auch darum bemüht, Normalität herzustellen in der Stadt. Gemeinsam mit anderen Organisationen versucht die Kindernothilfe gerade, den Schulbetrieb im College Verena im Stadtteil Delmas 2 wieder anlaufen zu lassen. Zahlreiche Familien campieren auf dem Sportplatz der Schule, am Mittwochnachmittag hämmern und sägen Arbeiter hier ein Holzgestell zusammen, es soll ein Zelt werden, unter dem 200 Drei- bis Sechsjährige Platz finden – zum Spielen und Toben.

„Spielen ist gut“, sagt Baptiste, auch gegen Traumata. „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung. Wir müssen überleben, irgendwie.“

So ganz genau weiß er – allem demonstrativ versprühten Frohsinn zum Trotz – auch nicht, wie das gehen soll. Ein Teil der Schulgebäude ist eingestürzt. Dem blaugrauen Küchentrakt samt Spielraum hat es die Stützpfeiler weggehauen, er ist in sich zusammengesunken. „Die Häuser müssen abgerissen werden“, sagt Baptiste und macht eine ausladende Handbewegung. Da im Moment sowieso niemand in einem festen Haus zur Schule gehen möchte, sagt er sich, mit ein paar Zelten geht es auch erst mal. „Keiner traut sich zu sagen, dass die Beben vorbei sind“, sagt er.

Zelte sind nicht so teuer wie Häuser und schneller fertig. Und auf Zeit und Geld kommt es an, denn beides fehlt. Schon gehen die Vorräte zur Neige, und selbst wenn sie Geld hätten: Die Supermärkte sind geschlossen, in Mengen einkaufen, das geht nicht, man muss sich alles zusammensuchen. 200 Kinder können sie aufnehmen, zehnmal mehr brauchen Hilfe wie diese. Sie haben eine Liste gemacht. Das war nicht leicht. Wen nehmen, wen nicht.

Baptiste erzählt von den Verteilungskämpfen, die er gesehen hat. „Gestern war eine Hilfsorganisation mit UN- Schutz da vorne“, sagt er und zeigt auf einen Platz am Eingang des Schulgeländes. Da seien 2000 Menschen zusammengekommen. Die Stärksten hätten sich vorgedrängelt, so massiv, bis die UN-Truppe die Menge nicht mehr kontrollieren konnte und die Verteilaktion abbrach.

In der neuen Zeltstadt hinter der Schule leben rund 1000 Leute. Elisio ist einer von ihnen. Er ist 30 Jahre alt. Er hat beim Beben sein Haus verloren, die Familie hat überlebt. Jetzt sitzt er vor seiner provisorischen Planenunterkunft und stopft Holzkohle in kleine Säckchen. Für fünf Gourdes, 40 Gourdes sind ein Euro, verkauft er sie als Brennmaterial – eines der ökologischen Probleme des Landes, aber für den schlaksigen Mann spielt das im Moment keine Rolle.

Ein paar Meter weiter fragt sich die 40-jährige Ginette, wie es weitergehen soll, mitten auf dem Pflaster liegt sie auf einer dreckigen Decke neben einem Kanister und einer Schüssel, ein Bein ist geschient, ein Arm verbunden. Mit zwei Kindern hat sie überlebt, ihren Mann hat sie seit dem Beben nicht mehr gesehen, und sie hat Angst, dass sie ihn überhaupt nie wieder sehen wird. Dass er irgendwo liegt, verletzt, leidend, verdurstend. Oder ist er tot, in Stücke gerissen, hat man ihn am Ende bereits verscharrt in einem der Massengräber?

Ein paar Meter weiter lugt Sella unter einem völlig zerzausten Haarbausch vor. Sie habe eine Schwester, sieben weitere Familienangehörige und ihr Haus verloren, sagt sie. Jetzt lässt sie sich von ihrer Freundin Eugena die Haare machen und kleine Strähnchen einweben. Ein bisschen Normalität ist das.

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