zum Hauptinhalt

28 Jahre Dschungelcamp: Der späte Frieden des Yokoi Shoichi

Auf der Pazifikinsel Guam wird 1972 ein japanischer Soldat entdeckt. Seit 28 Jahren versteckt er sich im Dschungel - der Weltkrieg ist für ihn noch nicht zu Ende.

Am Tag nach der Festnahme untersucht ihn ein Ärzteteam: Blutdruck und Herzschlag normal, die zahlreichen Exzeme auf der Haut harmlos, vermutlich stammen sie von Moskitostichen. Yokoi Shoichi wiegt nur noch 41 Kilo, sein Kopf wirkt riesig im Vergleich zum Rest des ausgemergelten Körpers. Später stellen die Mediziner Blutarmut und Vitamin-B-Mangel fest, aber falls wirklich stimmt, was der bärtige Mann im Zentralkrankenhaus der Pazifikinsel Guam behauptet, kommt sein Gesundheitszustand einem Wunder gleich.

Fünf Dorfbewohner haben Yokoi Shoichi gefunden. Am 24. Januar 1972, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, steht er am Ufer des Flusses Talofofo, nicht weit von einer kleinen Ortschaft im Südosten der Insel. Die Männer schleichen sich an und überraschen ihn. Yokoi versucht, einem von ihnen das Gewehr zu entreißen. Sie ringen ihn zu Boden, dann zwingen sie ihn, ins Dorf mitzukommen. Bevor sie den Fremden der Polizei übergeben, fragen sie noch, ob er Hunger oder Durst habe. Er hat beides.

Yokoi Shoichi trägt keine Uniform, doch er behauptet, Soldat der kaiserlich-japanischen Armee zu sein. Die existiert seit 27 Jahren nicht mehr. Yokoi sagt auch, er habe sich jahrzehntelang in der Wildnis versteckt. Am nächsten Tag begleiten ihn Polizisten in den Dschungel. Er denkt, sie wollen ihn hier erschießen und vergraben. Eine Krankenschwester vom Roten Kreuz ist auch dabei, sie schafft es, Yokoi zu beruhigen. Da führt er die Gruppe in einen Bambuswald – zu einem kleinen Erdloch, mit Zweigen und Blättern getarnt. Es ist sein Erdloch.

Yokoi Shoichi brauchte einen ganzen Monat, um die Höhle zu graben. Zuerst drei Meter in die Tiefe, dann einen waagerechten Gang, etwa vier Meter lang. An einem Ende finden die Beamten eine Feuerstelle. Damit der Rauch abziehen konnte, hat Yokoi einen schmalen Belüftungsschacht gegraben. Die Decke stützte er mit Baumstämmen ab. Neben der Feuerstelle liegen getrocknete Bananenschalen auf einer Reihe von Bambusstöcken, sie dienten als Bett. Auch eine Machete sammeln die Polizisten ein, dazu zwei Handgranaten, Seile, Fangnetze, eine japanische Flagge. Von allen Fragen, die der Aufgegriffene in den nächsten Wochen immer wieder gestellt bekommt, von Ärzten, Politikern, von Veteranen und Fernsehmoderatoren, drängen sich zwei besonders auf: Wie kann sich ein Mann so lange im Dschungel verstecken? Und vor allem: Warum tut er das?

Yokoi Shoichi ist 1943 nach Guam gekommen. Mit 20 000 weiteren Soldaten soll er die Pazifikinsel verteidigen, die Japan erst zwei Jahre zuvor, kurz nach dem Angriff auf Pearl Harbor, von den USA eroberte. Guam hat strategische Bedeutung: Von hier aus könnten amerikanische Langstreckenbomber das japanische Festland erreichen. Im Juli 1944 beginnen die USA mit massiven Attacken, fünf Schlachtschiffe feuern mit Geschützen, aus der Luft greifen B-24-Flugzeuge an. Bei der folgenden Invasion brechen die japanischen Verteidigungslinien schnell zusammen, doch nur die wenigsten Soldaten geben auf. Nie kapitulieren, lieber sterben, so haben sie es Kaiser Hirohito geschworen. Mehr als 19 000 japanische Kämpfer kommen auf der Insel ums Leben. Yokoi Shoichi kann in den Dschungel flüchten. Auch er will sich unter keinen Umständen ergeben. Er will warten und hoffen, dass eines Tages Unterstützung kommt.

Wie Yokoi im Dschungel überlebt.

Seine Höhle liegt nur einen knappen Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Dass ihn niemand entdeckt, liegt an seinen strikten Vorsichtsmaßnahmen: Tagsüber bleibt Yokoi in der Höhle, nachts geht er auf die Jagd, sammelt Früchte, badet im Fluss. Er achtet darauf, jede seiner Fußspuren zu verwischen. Die japanischen Zeitungen werden ihn später mit Robinson Crusoe vergleichen. Yokoi kann das nicht nachvollziehen. Die Romanfigur habe schließlich nicht mit der Furcht leben müssen, jeden Moment vom Feind entdeckt und getötet zu werden, sagt er.

In den ersten Jahren im Dschungel hat Yokoi Kontakt zu zwei weiteren geflohenen Soldaten. Eines Nachts findet er sie tot in ihrer Höhle, vermutlich sind sie verhungert. Einsam fühlt sich Yokoi Shoichi trotzdem nicht. Er war schon als Kind verschlossen und eigenbrötlerisch, wird er später in seinen Memoiren schreiben. Diese Charaktereigenschaft habe ihm vermutlich geholfen in der Isolation.

1952 findet der Einsiedler ein Flugblatt in seinem Bambuswald, ein Jet hat es abgeworfen. Darauf steht in japanischer Schrift, der Zweite Weltkrieg sei beendet, die japanische Armee habe kapituliert. Yokoi hält es für Propaganda des Feinds. Wenn er sich jetzt ergebe, werde er hingerichtet, fürchtet der Soldat. Außerdem will er einhalten, was er seinem Kaiser schwor.

Er achtet darauf, keine Selbstgespräche zu führen. Jedes unnötige Wort könnte ihn verraten, glaubt er. Zum Feuermachen dient ihm die Linse eines Fernglases. Weil er vor Kriegsausbruch das Schneidern lernte, kann er seine zerschlissenen Hosen und Jacken ersetzen. Dazu schabt er von Hibiskusbäumen Rinde ab, zerfasert sie und spannt die Fäden in eine selbstkonstruierte Webmaschine ein. Eine verrostete Schere besitzt er auch, mit ihr schneidet er sich Kopfhaare und Bart.

Den Großteil seiner Nächte verbringt Yokoi Shoichi mit Nahrungssuche. Auf Guam wachsen Kokospalmen, das Fruchtfleisch der Nüsse isst er roh, die Milch braucht er, um damit seine übrigen Mahlzeiten zu süßen: Papayas, gefangene Ratten oder Vögel, auch Katzen und Schnecken, alles schmeckt nach Kokos, ein anderes Gewürz hat Yokoi nicht. In Notzeiten kocht er grüne Bananen, Wurzeln, Bambussprossen. Er ist seinen Eltern dankbar. Die haben ihm beigebracht, lange und ausdauernd zu kauen.

Mit den Jahren entwickelt Yokoi effektive Jagdtechniken. Aus Bambusrinde flicht er Körbe mit Löchern an der Seite, die legt er nachts im Fluss aus. Holt er sie morgens kurz vor Sonnenaufgang ein, sind meist mehr Aale und Garnelen drin, als er essen kann.

Einmal gelingt es ihm, ein junges Wildschwein zu fangen. Er möchte es domestizieren, nimmt es mit in die Höhle. Dem Tier geht es gut dort unten, glaubt der Soldat. Jedes Mal, wenn er es füttert, quiekt es vergnügt. Das ist sein Todesurteil. Yokoi fürchtet, das Geräusch könne ihn irgendwann in seinem Erdloch verraten. Also schlachtet er das Schwein. Am Hang eines Bergs, den Yokoi vom Rand des Bambuswalds aus sehen kann, beginnen bald Bauarbeiten. Eine neue Siedlung entsteht, junge Familien ziehen ein. Yokoi hält sich fern von diesen Bauten. Er glaubt, es handele sich um einen Stützpunkt des US-Militärs.

Zu diesem Zeitpunkt hat sich Guam bereits zu einer japanischen Touristenattraktion entwickelt. Dank neuer Fluglinien ist die Insel von Tokio aus in drei Stunden zu erreichen.Viele Paare verbringen hier ihre Flitterwochen in Hotelanlagen, wenige Kilometer von Yokois Erdloch entfernt.

Regelmäßig vernichten Kakerlaken seine Nahrungsvorräte. Sie vermehren sich rasch in der Höhle. Yokoi Shoichi muss sie einzeln fangen und mit der Hand zerquetschen, in einer Nacht zählt er 150 Stück. Später kommt ihm die Idee, sich Kröten in der Höhle zu halten. Die fressen Kakerlaken. „Ich konnte mich nicht mit ihnen unterhalten“, wird Yokoi nach seiner Entdeckung berichten. „Trotzdem waren die Kröten meine einzigen Verbündeten und Freunde.“

Wie Yokoi in seine Heimat zurückkehrt

Am 7. Februar 1972, zwei Wochen nach seiner Festnahme am Fluss, fliegt Yokoi Shoichi nach Tokio zurück. Auf dem Rollfeld warten Veteranen und der Gesundheitsminister, Yokoi trägt noch die Badeschlappen aus der Klinik. Gestützt von einer Pflegerin stellt er sich vor die Mikrofone. Er sagt, Japans Soldaten verfügten über große mentale Kräfte. Der einzige Grund für die Kriegsniederlage sei, dass die Armee zu wenig Flugzeuge und Schiffe besessen habe. Er entschuldigt sich auch, dass er nicht bis zum Tod weitergekämpft habe: „Es ist mir peinlich, lebend zurückzukehren.“ Die Fernsehübertragung erreicht eine Einschaltquote von 70 Prozent, die erste Mondlandung drei Jahre zuvor verfolgten weniger Landsleute.

Im besten Krankenhaus der Stadt wird Yokoi erneut von Medizinern untersucht. Der Chefarzt diagnostiziert einen „ernsten Schock, weil Yokoi Shoichi in eine Welt hineingeworfen wurde, die nicht seine ist“. Neue Industrien haben Japan raschen Wohlstand gebracht, aber auch das Bild der Innenstädte radikal verändert. Es sind nicht bloß die Farbfernseher, die schrillen Reklametafeln und schnellen Autos, die Yokoi irritieren. Er mag keine Frauen, die Worte fremder Männer erwidern. Außerdem ärgert ihn, dass Kaiser Hirohito nun auf Fotos und Plakaten abgebildet wird. „Wer hat das erlaubt?“, fragt er einen Klinikangestellten. Am Tag nach seiner Entlassung fährt Yokoi im Taxi zum Palast des Kaisers. Er möchte ihn über seine Rückkehr informieren – und sich für die Schande entschuldigen, die er durch seine Gefangennahme auf sich gezogen habe. Er wird am Palasteingang abgewiesen. Der Kaiser sei beschäftigt, heißt es, lasse jedoch Glückwünsche übermitteln.

Yokois Popularität wächst weiter. Für die einen symbolisiert er die Werte des alten Kaiserreichs, er wird geliebt von Nationalisten und Konservativen, die Japans Rolle in der neuen Weltordnung als Kränkung empfinden und an die Einzigartigkeit der japanischen Rasse glauben. Viele sehen die Annäherung der USA an China als Demütigung, im Februar 1972 hat Richard Nixon Peking besucht, das war lange undenkbar. Andere wie Oppositionsführer Miki Takeo kritisieren, die Verherrlichung von Yokois Sturheit sei genau das falsche Signal. Vielmehr brauche es eine Geste der Versöhnung, eine wie Willy Brandts Kniefall in Warschau.

Noch im selben Jahr heiratet Yokoi Shoichi. Die Flitterwochen verbringt das Paar auf Guam. Er sagt, die Frau sei die Liebe seines Lebens: „Sie ist die richtige Person, um mich zu beschützen.“ Die beiden ziehen aufs Land. Sein Heimatdorf hat Yokoi nicht wiedererkannt, es ist während der Jahre im Dschungel von der Millionenmetropole Nagoya verschluckt worden.

In den Folgejahren werden auf verschiedenen Inseln weitere japanische Kämpfer entdeckt, keiner erlangt ähnliche Berühmtheit wie Yokoi Shoichi. Im September 1997 stirbt er im Alter von 82 Jahren an Herzversagen. Er wird auf einem Friedhof in Nagoya begraben – unter dem Stein, den seine Mutter schon 1955 für ihn aufstellen ließ.

Zur Startseite