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29. Januar 2010: Tag 12: "Kein Respekt mehr vor Nonnen und grauen Haaren"

Die Schüler einer Missionsschule in Port-au-Prince haben überlebt. Doch manche sind nun Waisen und die Nonnen müssen sich gegen Plünderer wehren.

Es ist, als gäbe die große schwarze Handtasche ihr den Halt, den sie jetzt braucht. Schwester Rose Andree Fievre trägt einen blauen Kittel mit Blümchenborte vor der Brust, auf dem Kopf sitzt ein weißes Häubchen. Die Hände verschränkt über ihrer Tasche, sitzt die 74-jährige Haitianerin zwischen den Trümmern ihrer Schule für taubstumme und blinde Kinder, mitten im Chaos des zusammengestürzten Zentrums von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, und dirigiert die Evakuierungsarbeiten. Seit 52 Jahren führen die Schwestern die Schule, heute aber stehen Regale, Schulbänke und Jesusfiguren im engen Hof und Vorgarten – alles, was noch zu retten ist, soll möglichst schnell auf einem Laster weg von hier. Die Tasche erfüllt ihre Funktion, die alte Dame steuert resolut die Arbeiten. Schwester Rose Andree muss jetzt für alle stark sein.

Auch für die dürre alte Frau, die neben ihr sitzt, eine Nachbarin der drei Schwestern der Schule „Institut Montfort pour enfants sourds“, die jetzt jeden Tag kommt. Sie starrt vor sich hin, eine hölzerne Jesusfigur in den Armen. Auch sie hat ihr Haus beim Beben am 12. Januar verloren. Für sie ist dieser Ort die Tasche. Doch heute reicht die Tasche von Schwester Rose Andree allein nicht mehr. Ein hungriger Mob ist durch eine eingestürzte Seitenmauer eingedrungen und hat die Vorräte geplündert, die sollten für ein halbes Jahr reichen. „Wer reinkommt und uns stört, den bringen wir um“, haben die Plünderer einer Schwester gedroht. Sie haben sie ziehen lassen. Während sie das erzählt, verzieht Schwester Rose Andree ein wenig das Gesicht. Eine Rippe ist gebrochen.

Weil es in dieser Gegend jetzt viele Plünderungen gibt, haben sie die Kinder im Viertel Santo untergebracht. Sie haben alle überlebt an jenem 12. Januar, weil sie draußen waren. „Eine Stunde später – alle wären da oben gewesen“, sagt Rose Andree. Da oben ist jetzt unten. Links neben dem Haupthaus sind tragende Pfeiler eingesackt, der komplette Trakt liegt windschief auf der Seite. Dort, wo die 150 Internatskinder unter den insgesamt 450 Schülern ihre Schlafräume hatten, geht man jetzt ebenerdig in den ersten Stock. Der Haupttrakt ist nur noch ein Gebilde aus Rissen. Wer hier einen Fuß hineinsetzt, hat den Eindruck, schon ein leichtes Husten könnte alles zum Einsturz bringen. Auf einem Tisch ist ein trauriges Hoffnungszeichen geblieben: eine Pieta.

Rasch haben die drei Schwestern nach dem Beben über das Radio die Eltern aufgerufen, ihre Kinder abzuholen. Doch 15 blieben übrig. Diese Kinder wohnen jetzt bei den Schwestern. Für alle hier ist es schwer, denn sie betreuen auch 13 körperlich und geistig behinderte Kinder, die intensive Zuwendung brauchen.

Doch die Nonnen lassen sich nicht unterkriegen. Sie haben Bäume im Hof gefällt, um zu kochen. Wegen all der Plünderungen in der Nachbarschaft hat Rose Andree über einen Freund die US-Armee zu Hilfe gerufen. „Sie sollen sehen, dass wir Unterstützung vom Militär haben“, sagt sie. Captain John Krampien rückt soeben im weißen Toyota des Freundes an. Zwei Humvees mit bewaffneten GIs begleiten ihn als Sicherheitseskorte.

Brauchen sie so einen martialischen Aufzug, um durch die Stadt zu kommen? „Die Haitianer sind alle nett zu uns, es gibt keine Probleme“, sagt der junge Captain. „Aber man kann nie wissen. Es ist gut, vorbereitet zu sein. Wir wollen denen helfen, die noch mit uns sind“, sagt Krampien. 21 Schwerverletzte hätten sie schon ausgeflogen, seien in Feldlazaretten gewesen, in Schulen, überall rundherum, sagt er und zieht eine Luftbildkarte aus Humvee „Red 5“. GIs sichern die zusammengestürzte Kathedrale, verteilen Essen. Haben sie ihre Waffen schon eingesetzt? „Oh no, no, wir haben nur da gestanden und mit den Leuten geredet.“ Er und seine Schutztruppe ziehen wieder ab, die Demonstration für Plünderer war deutlich. „Da draußen riecht es noch immer nach Leichen“, sagt der junge Captain und deutet Richtung Hafen.

Nicht nur dort sind nach Wochen noch immer nicht alle Toten geborgen. Ein paar Straßen entfernt von der Schule der Schwestern liegt eine weitere Behindertenschule. Die massiven Decken haben alles unter sich begraben, wie eine Grabplatte liegen sie auf dem Schutt. Die Schulleiterin, die während des Bebens unterwegs war, hat noch viele Kinder aus den Trümmern ziehen können. Vier Kinder aber haben sie nur gehört. Sie riefen nach Mama und Papa, drei Tage lang. Beim Suchen habe ihnen niemand geholfen, berichteten die Lehrer der Nothilfekoordinatorin der internationalen Christoffel-Blinden-Mission (CBM), Valerie Scherrer. Scherrer bleibt in sicherem Abstand stehen. Sie weiß, was jeden erwartet, der näher an das Metallknäuel herangeht. Das war einmal ein blaues Auto, das unter den Schulmauern begraben wurde. Ein Arm ragt heraus, reckt sich wie ein Hilfeschrei vom Beifahrersitz gen Straße. Wer war sie? Wie lange hat sie versucht, aus diesem Gefängnis zu entkommen? Passanten kommen vorbei, machen ein Foto mit dem Handy. Es gibt in diesen Tagen so viele grässliche Bilder in Port-au-Prince. Dieses greift nach einem.

Rose Andree rutscht unruhig auf ihrer Bank herum. Es ist jemand auf den Hof gekommen, den sie nicht kennt. Sie ist sehr misstrauisch geworden. „Schwestern und Ausländer gelten als reich. Sie sind ein Ziel“, wird sie noch erzählen. Auf dem Weg nach Santo ist gestern auch ihr Truck überfallen worden. „Die Leute stellten sich uns in den Weg und forderten, wir sollten ihnen sofort das Essen geben.“ Sie haben die Tür aufgemacht. Es waren nur Stifte und Shirts für die Kinder und Lehrer drin. Man ließ sie weiterfahren. Doch in die Essenverteilung will sie nicht einsteigen. Sie haben sie schon gefragt, sie ist ja von hier, sie ist Nonne. „Es gibt keinen Respekt mehr. Nicht vor Schwestern, nicht vor grauen Haaren. Ich hätte keine Chance.“

Für den Moment hat sie ein bisschen Sicherheit zurückgewonnen. Mit Captain Krampien und einem festen Griff um ihre schwarze Tasche. Schwester Rose Andree will nun mit ihren Kirchenverantwortlichen beraten, wie es weitergeht. Ob sie die Schule in diesem Viertel wieder aufbauen will, weiß sie nicht. Vielleicht eher in Santo. „Wir sind hier mitten im Unruheherd. Nach uns werden junge Schwestern kommen. Vielleicht werden sie nicht stark genug sein für das hier“, sagt die 74-jährige sanft lächelnd, bevor sie in ihren staubigen schwarzen Sandalen davonstapft und sich wieder in die Aufräumarbeiten stürzt.

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