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Alte Gesichter, alte Geschichten. Heute sehen Fotos vom letzten Schultag zum Glück nicht mehr ganz so schlimm aus wie dieses aus den Achtzigern. Und doch holt einen die eigene Vergangenheit beim ersten Klassentreffen wieder ein.

© Ullstein

Abi-Treffen: Klassenkarambolage

Fünf Jahre nach dem Abi trifft unser Autor seine ehemaligen Mitschüler wieder – und auch sein altes Ich.

Spätestens nach zehn Minuten ist alles wieder wie früher. Dieselbe Clique, dieselben Gesichter, dieselben Geschichten. Der Klassenclown feuert einen Gag nach dem anderen ab, tief grollendes Lachen. Hohoho! Die Männer stoßen mit Bier an; die Frauen trinken Caipirinha mit Erdbeer- oder Mangogeschmack. So viel scheint sich gar nicht geändert zu haben. Mein suchender Blick scannt die Runde. Überall vertraute Fremde. Sie ist nicht da. Schon wieder weg, sagen die anderen. Ich wische meine schweißigen Hände an der Jeans ab, hätte nicht gedacht, dass ich so aufgeregt bin. Am schwersten fällt die Begrüßung: Klar, mit den alten Kumpels wird eingeklatscht, aber bei den Mädels? Hände schütteln oder Umarmen? Schließlich halb verkrampftes an den Wangen reiben ohne Küsschen. Hauptsache locker. 

Warum so nervös? Ist doch nur ein Klassentreffen, man trifft die alten Freunde aus Teenagertagen, lästert über die Außenseiter und schaut, ob die hübschen Mädchen immer noch hübsch sind. Dachte ich. Aber irgendwie ist ein Klassentreffen mehr als nur ein Wiedersehen, es ist eine Begegnung mit der Vergangenheit, eine Rückkehr an den Anfang. Zurück in die Zukunft. Wir alle kannten uns schon, als die strähnigen Haare noch bis zu den Schultern reichten, wir aus verpickelten Pubertätsgesichtern mit zu großen Nasen stumpf in die Welt schauten und schlimme Klamotten trugen. In den vergangenen fünf Jahren haben wir uns verändert – die einen mehr, die anderen weniger. Mehr Bart, weniger Haare, die Akne vernarbt. Unsere Schulzeit haben wir abgelegt wie eine Schlange, die sich häutet. Neue Freunde, neue Stadt, neues Leben. Nur die alten Mitschüler erinnern sich noch an unser altes Ich. An all die Peinlichkeiten und Fehltritte. An die Bauchklatscher im Schwimmunterricht, das Gestammel beim Gedicht aufsagen, das Kotzen nach dem ersten Joint.

Ich hab mich schick gemacht, mein bestes T-Shirt aus dem Schrank geholt, das blaue mit den Knöpfen, habe mir Wachs in die Haare geschmiert - gestern noch beim Friseur gewesen - und die neuen Schuhe angezogen. Will ja gut aussehen auf den Fotos. Die bleiben. Wir haben uns in einer Bar getroffen, in der Stadt, die wir alle verlassen haben. Rund 55 Leute sind gekommen - 55 von 100, die meisten wohl aus Neugierde, mal schauen was so geworden ist aus ihm oder ihr. Bei einigen Gesichtern muss ich lange im Gedächtnis kramen bis mir der Name einfällt. War der wirklich bei uns im Jahrgang? Schon so lange her. Die Erinnerung schwärzt die unwichtigen Dinge. Wir stehen jetzt in Grüppchen im Hinterhof unter Bierzelten. Am Buffet gibt’s Nudelsalat, Kuchen und Klops. Eigentlich sollte es schön werden, doch der Himmel zieht seine Vorhänge zu. Kein Bock auf Sonne. Wolkenverhangen. Die Regenjacken türmen sich auf den Sesseln.

Früher waren wir öfters nebenan, in dem kleinen Club im Keller. Den ganzen Sommer nach dem Abi haben wir dort getanzt und getrunken. Wir sind zu den Sportfreunden Stiller grölend im Kreis gehüpft. Und haben zu „Tanz der Moleküle“ von Mia. abgespastet. „Ich bin hier, weil ich hier hin gehööör!“ Vielleicht war‘s einer der besten Sommer überhaupt. Der Klassenclown packt jetzt die alten Saufgeschichten aus. Er erzählt wie wir versuchten, Cora und Carlo zu verkuppeln, aber beide sich nicht trauten. Oder wie Mark sich so weggeschüttet hat, dass ihm der Jägermeister aus der Nase schoss. Damals trug er noch Zopf und buschige Metaller-Koteletten, heute bevorzugt er kleinkarierte Hemden und Brille. Oder wie Victor völlig betrunken an Valerie  heranwankte, von der er jahrelang nicht einmal den Namen kannte, obwohl sie in die Parallelklasse ging. „Willst du tanzen?“ Drei Tage später waren sie ein Paar, heute wohnen sie zusammen. Die einzigen, die zusammen geblieben sind. Alle anderen haben sich getrennt.

Im Abiheft hatten sich all die Pärchen noch ewige Treue geschworen. „Wo siehst du dich in zwanzig Jahren?“, war die Frage. Chrissi  faselte von einer Ehe mit Mark, von Kindern und einem Häuschen im Grünen.  Ich schrieb Schwachsinn: „Bekennender Hartz-IV-Empfänger, oben bei Mutti.“ Damals fand ich das witzig. Fünf Jahre ist das erst her, irgendwie kommt es mir viel länger vor. Solange man zur Schule geht, kann man sich ja ein anderes Leben gar nicht vorstellen. Erst danach begreift man, was für ein kleingeistiger Mikrokosmos das ist. Allein, dass wir jeden Morgen um 6 Uhr aufgestanden sind - heute unvorstellbar. Je mehr getrunken wird, desto stärker wankt die Pausenhof-Hierarchie. Die Gruppen mischen sich, überall dasselbe Smalltalk-Geplapper: Wahnsinn, du hast dich total verändert! Und was machst du so? Aha, cool. Echt? Interessant. Sonst so? Ja, kenn ich. Zigarette? Klar. Und alle denken: Früher fand ich dich immer scheiße, aber jetzt verstehen wir uns doch ganz gut. Die Vorurteile sind geschwunden. Wir wissen nichts voneinander, aber wir teilen dieselben Erinnerungen. Für einen guten Abend reicht’s noch.

Nach dem Abi hatten wir große Pläne geschmiedet, wollten zusammenziehen, träumten von der Zukunft. Letztlich hat es uns alle woanders hin verschlagen, wir sind über ganz Deutschland verstreut. Jeder strebt in eine andere Richtung und dennoch gleichen sich unsere Erfahrungen: Wir haben studiert, waren im Ausland, haben ganze Wochen oder Monate geopfert für einen Halbsatz im Lebenslauf, sind gereist, haben uns treiben lassen, sind vernünftiger geworden oder noch bekloppter. Wenn wir uns jetzt wiedertreffen, sehen wir, was aus den Hoffnungen geworden ist, mit denen wir ausgezogen sind. Ein Klassentreffen ist so gesehen auch ein Wettbewerb: Abchecken, vergleichen, einordnen.

Cornelius, der Schönling mit den Dreadlocks, ist ein schmieriger Jurist geworden mit Segelschuhen und Schmiss auf der Wange. Julia, von der alle dachten sie würde als ewige Jungfer verkümmern, kommt mit kugelrundem Babybauch und diesem zufriedenen Schwangeren-Grinsen im Gesicht. Die leicht verpeilte Jackie, die stets ein Raunen auslöste, wenn sie vorm Schwimmunterricht im Bikini aus der Umkleidekabine wackelte, arbeitet als Unternehmensberaterin. Die Nerds sind die Nerds geblieben, verstockte Langweiler, die selbst das Gesicht eines Strichmännchens mit dem Lineal malen würden. Bülent, der Möchtegerin-Gangster, macht jetzt in Import-Export und verkauft gebrauchte Autoreifen nach China, ein Riesengeschäft, meint er. Frida, das düstere Gothic-Mädchen, in das ich immer ein wenig verschossen war, hat ihre Haare blond gefärbt und lächelt zauberhaft in ihrem blaugemusterten Kleid. Und Marta, die ich schon seit der ersten Klasse kenne, studiert Medizin, ihre Augen strahlen naiv-blau, sie sieht großartig aus. Wie immer.

Nur sie fehlt. Sie, die ich am tollsten fand, die den besten Hintern von allen hatte und deren Lunge rasselte wie ein klappernder Auspuff. Sie kommt auch nicht mehr. Schade. Vielleicht aber auch besser so, Illusionen soll man nicht  zerstören. Plötzlich ein Wolkenbruch. Es schüttet wie aus Kübeln. Der Hinterhof wird zur Matschkuhle. Lieber noch woanders hin. Das Bier ist eh leer und die Nerds haben die Musik erobert und spielen „Bonnie und Clyde“ von den Toten Hosen. Die Straßen sind dunkel und leer, die Mücken summen besoffen und der harte Kern hastet in die Absturzkneipe. Irgendwann im Alkoholnebel löst die Runde sich auf.

Am nächsten Tag schreibt Jackie bei Facebook, wie toll es war und, dass wir das unbedingt mal wieder machen müssten. Am besten im „Drei-Jahresrhythmus mit rotierender Orga“. Darunter zwei Kommentare: Danke dir. Und: Klingt gut. Seitdem ist die Seite verwaist. Wenn wir uns in fünf Jahren wiedertreffen, genügt es ja auch. Mal sehen, wer wir dann geworden sind.

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