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Panorama: Alle am Fluss

Dass es ein Wal die Themse hinauf bis ins Herz Londons geschafft hat, verstört viele Briten zutiefst

Die Menschen strömten aus ihren Büros, kaum hatten die 24-Stunden-TV-News- Kanäle am Freitag die Nachricht in Umlauf gebracht: „Wal in der Themse“. Sky News kommandierte seine gesamte Journalistenequipe an den Fluss. Sogar der Kriminalreporter musste sich mit zoologischen Fragen um den Entenwal, Spezies Hyperoodon ampullatus, befassen. Noch in der Dämmerung schwebte der Sky-Hubschrauber über der Themse, auch wenn die Kameras nur das trübe Themsewasser filmen konnten. Aber an dieser Geschichte war mehr, als das Auge sehen und Tausende von Handys filmen und fotografieren konnten. Ein Wal, das biblische Tier, war aus den unergründlichen Weiten des Nordatlantiks nach London gekommen. War 60 Kilometer Themse aufwärts geschwommen, durch das Bollwerk der Themse-Barriere, die große Flussschleife der Docklands vorbei an den Trutzburgen der Grundstücksspekulanten, unter der Tower Bridge hindurch, am Zentrum der Welthochfinanz vorbei, unter der Kuppel der St.Paul’s Kathedrale, unter der Waterloo Bridge hindurch und tummelte sich nun vor den Houses of Parliament und dem Hauptquartier von James Bond. Das hatten auch die Spione ihrer Majestät noch nicht gesehen. Sie schlugen jede Rücksicht auf Anonymität in den Wind, vergaßen den Kampf gegen den Terrorismus und strömten auf die Terrasse ihres Headquarters an der Themse, um den Wal zu betrachten. „Here she blows“, riefen sie, „er bläst“, als stünden sie nicht auf ihrer Betriebsterrasse, sondern auf dem Schiffsdeck mit Kapitän Ahab auf der Jagd nach Moby Dick.

Das letzte Mal kam ein so großer Wal 1658 in die Themse. Ein Unheilsbote, der den Tod Oliver Cromwells kündete, wie sich der „Daily Telegraph“ erinnerte, um die apokalyptische Stimmung zu beschreiben, die, jenseits aller Sensationslust, mit solchen Ereignissen verbunden ist. „Was kündigte der neue Besucher uns an? Eine Währungskrise? Krieg mit Iran? Es kann nichts Gutes bedeuten.“

Ein verstörendes Erlebnis in der Tat. Denn hier kommt zusammen, was nicht zusammengehört und das jagt uns Schauer über den Rücken. Banker, Straßenverkäufer, Parlamentsabgeordnete, Touristen – alle waren ans Themseufer gekommen, starrten in die schmutzige Wasserbrühe und fragten sich, was das wohl zu bedeuten habe. Auge in Auge, das mythische Tier aus den Tiefen des Weltmeers und die Londoner mit ihren Handys. Der Mythos unberührter Natur und die Heuschreckenbanker der Londoner City. Betroffen sahen sie nun, wie der Herr der Meere verzweifelt mit dem Schwanz auf die rostigen Bierdosen im verschmutzten Themseschlamm schlug. Beide hilflos. Tausende schickten E-Mails, texteten ihre Fragen und Kommentare an die Mediengesellschaften.

Einen rechten Reim konnte sich keiner machen. Einer textete, in seiner Ratlosigkeit: „George Bush, sofort das Kyoto-Protokoll unterschreiben!“

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