zum Hauptinhalt

Alte: Pfleglich behandelt

Hier die unterforderten Langzeitarbeitslosen, da die unterförderten Heimbewohner: Wie aus zwei Problemen ein Projekt wurde – und Sabine Hoffmann endlich wieder Arbeit fand.

Es ist der Tag, an dem Frau Dr. päd. Ursula Richter* viele Male „Der Frühling hat sich eingestellt“ singt und sich nach der Essenszeit erkundigt.

Der Tag, an dem Frau Walde* ihre neu lackierten Fingernägel mit dem Taschentuch poliert und sagt, dass sie die Blusen und Pullover nicht leiden könne, die ihre Tochter immer anschleppe.

Der Tag, an dem es mittags Linsen oder Nudeln gibt im St.-Albertus-Seniorenheim der Caritas-Altenhilfe in Berlin-Hohenschönhausen.

Ein Arbeitstag von Sabine Hoffmann. Ein besonderer Tag, denn Sabine Hoffmann war 19 Jahre lang arbeitslos.

Und so liefert dieser Tag eine Idee davon, wie in Deutschland künftig Arbeit für die Massen aussieht. Nach Fließband, Schreibstube und Laptoparbeit im W-Lan-Café ist der Dienst an kranken Alten die nächste Boombranche: Die Zahl der Pflegebedürftigen – heute bereits mehr als zwei Millionen – wächst beständig und damit die Summe, die für sie ausgegeben wird. 20,3 Milliarden Euro zahlten die Pflegekassen 2009, sechs Prozent mehr als im Jahr davor, unter anderem, weil im Sommer 2008 die Betreuung von Demenzkranken ausgebaut wurde. Eine Änderung, die Sabine Hoffmann diesen ganz normalen Arbeitstag verschaffte.

Ihr Dienstplan verzeichnet für die Zeit von 9 Uhr 30 bis 11 Uhr 30: Kosmetikgruppe für die Bewohner der vierten Etage. Sie badet Hände in einer Plastikdose mit Seifenlauge, cremt sie, löst alten Nagellack mit einem getränkten Wattepad, der stechenden Alkoholgeruch verteilt, trägt neuen auf, hält die Bewohner an, die Hände in der Luft zu wedeln, damit der Lack trocknet.

Ursula Richter sitzt sehr aufrecht in dem großen Stationswaschzimmer, in dem Sabine Hoffmann die Cremes und Lacke auf einem rollbaren Tischchen aufgebaut hat. Ihr Blick geht über die Badewanne hinweg durch die schmalen Fenster hinaus in zartgrüne Baumkronen. Dann singt sie.

„Der Frühling hat sich eingestellt!

Wohlan, wer will ihn sehn?“

Ihr Fuß tippt den Takt auf den gefliesten Boden.

„Der muss mit mir ins freie Feld,

ins grüne Feld nun gehn.“

Macht man ja doch nicht!, sagt sie schnell in ihre letzten Töne noch hinein. Dann sitzt sie eine Weile stumm, bevor sie sich erkundigt, wann es Mittag gibt.

– Halb zwölf.

– Und wie spät ist es jetzt?

– Fünf Minuten nach elf.

– Dann kann ich mich ja schon mal auf den Weg machen.

Ursula Richter ist eine Dame mit bleicher Haut über dem feinen Lehrerinnengesicht, mit glatt gekämmten grauen Haaren, mit Flanellhemd und Wollrock. Sie hat mal ein Buch geschrieben über geistige Fitness durch Gedächtnistraining. 200 Seiten mit Übungen und Erläuterungen über kristalline Intelligenz, die den Sprachschatz speichert, und fluide Intelligenz, durch die vernünftiges Denken und zweckvolles Handeln möglich ist. Das Buch erschien in mehreren Auflagen, aber ihr hilft es nicht mehr.

„Der Frühling hat sich eingestellt!

Wohlan, wer will ihn sehn?“

– Hab ich das schon gesungen?, unterbricht sie sich.

– Macht nüscht, sagt Sabine Hoffmann.

Ursula Richter entzieht ihr die Hände.

– Und wann gibt es Mittag?

– Halb zwölf.

– Und wie spät ist es jetzt?

– Zehn Minuten nach elf.

– Dann gehe ich erst noch mal in mein Zimmer.

Sabine Hoffmann ist nach Paragraf 87b des Elften Sozialgesetzbuchs, gültig seit 1. Juli 2008, Betreuungsassistentin. Dazu geworden durch drei Lernmodule mit insgesamt 160 Unterrichtsstunden, Praktikum und Prüfung, absolviert und bestanden Ende November 2008. Sie darf Tätigkeiten ausführen, die als „zusätzliche Betreuung und Aktivierung“ von Heimbewohnern gelten, sofern deren „Beaufsichtigung und Betreuung“ einen „erheblichen Bedarf“ darstelle. Gemeint sind die Verwirrten, Vergesslichen, Orientierungslosen, die Dementen nach dem weltweit gültigen Diagnosestandard ICD-10.

Frau Walde war an diesem Tag die Erste in der Kosmetik.

Als Sabine Hoffmann den neuen Nagellack aufgetragen hat, schaut Frau Walde zufrieden auf ihre Finger. Dann hält sie ihr die wieder hin.

– Wir müssen den alten Nagellack erst abmachen, bevor wir den neuen drauftun.

– Aber das ist doch der neue!

Da kichert Frau Walde verlegen und ruft: Ach mein Gedächtnis.

Zusätzlich betreuen und aktivieren. Die Aufgaben, die Sabine Hoffmann hat, sind ausdrücklich keine pflegerischen. Sie liest vor, hört zu, sie backt Kuchen mit den Dementen, faltet Wäsche, geht mit ihnen spazieren. Man hat ihr in der Blitzausbildung ein bisschen was beigebracht über Demenz, was das ist, wieso die Menschen manchmal depressiv oder aggressiv werden, das seien ja nicht alles niedliche Omas, sagen sie bei der Caritas, wie man reagiert, wie auf keinen Fall. Eine gewisse Menschenfreundlichkeit musste sie dafür mitbringen und Geduld, das war es schon.

Und das war ja auch die Idee der Bundesregierung gewesen: Hier so viele unterforderte Langzeitarbeitslose, da so viele unterförderte Heimbewohner. Bringen wir das doch zusammen, minus mal minus macht plus. Gemeinsam mit Pflegekassen, Heimträgern, Arbeitsagenturen wurden dann die Details verabredet: Welche Aufgaben können den gestressten Pflegefachkräften abgenommen werden? Was muss in die Ausbildung der neuen Mitarbeiter? Und wer sucht die aus? Da hatten die Heime die meisten Einwände, die ja am besten wissen, um welche Art Arbeit es sich handelt. Unbedingt wichtig: die Freiwilligkeit. Auf keinen Fall dürfe man irgendjemanden zur neuen Heimtätigkeit zwingen! Man einigte sich schließlich, und es sieht bisher so aus, als seien alle zufrieden. Arbeitslose finden Arbeit. Heimbewohner Anteilnahme. Pflegeheime neue Mitarbeiter. Und die Pflegekassen stellen fest, dass besser betreute Heimbewohner weniger kränkeln.

Sabine Hoffmann, 45, ist eine zutiefst freundliche Frau, die sich zur Geduld nicht zwingen muss. Aus großen Augen schaut sie ihre Bewohner an und muss zwischendurch immer mal wieder doch ein klitzekleines bisschen grinsen, wenn die in ihrer Tüdeligkeit lustig werden.

– Sie sind lustig, sagt sie zu Frau Walde.

– Iiich? Luftig?

– Lustig!, ruft sie.

Mit der Wende hat die Ost-Berlinerin Sabine Hoffmann ihren Arbeitsplatz als Facharbeiterin für Warenbewegungen verloren. Sie bekam ihr erstes Kind, und als sie danach hätte weitermachen können, war der Betrieb weg. Sie erhielt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, oft was mit Senioren oder Jugendlichen, sie bekam ihr zweites Kind, dann wieder ABM-Stellen, dann Hartz IV, dann kam die Zeit, in der ihr Sohn eine Lehrstelle suchte und sie eine Arbeit und beide nichts fanden. Zehn Bewerbungen im Monat, das verlangen die Jobcenter, und immer nur Absagen.

Eine ihrer vielen Minibeschäftigungen führte sie 2008 ins St.-Albertus-Altenheim. Sie war MAE-Kraft, Ein-Euro-Jobberin. Bis man sie nach ein paar Monaten ansprach, ob sie die Fortbildung zur Betreuungsassistentin mitmachen wolle. Das könne der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt werden, hat man ihr gesagt, aber daran hat sie nicht mehr glauben wollen.

Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit wuchs zwischen 2000 und 2008 in der Pflegebranche die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 13 Prozent, rund 800 000 Menschen arbeiten in Pflegeberufen. Zusätzliche 77 000 Pflegefachkräfte werde man in den kommenden zehn Jahren benötigen, behauptet der Arbeitgeberverband Pflege. Im Sommer 2008 hat die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt von 35 000 Frauen und Männern gesprochen, „die einmal pflegerisch tätig waren und die wieder auf den Arbeitsmarkt zurück wollen“, denen das neue Jobangebot helfen könnte. Zwei Jahre darauf sind laut einem Ministeriumssprecher rund 20 000 Menschen als Betreuungsassistent beschäftigt – und auch die 30 neuen Stellen bei der Caritas-Altenhilfe waren schnell weg.

Viel verdienen lässt sich in den neuen sozialversichungspflichtigen Jobs allerdings nicht. In der Pflegebranche wird schlecht gezahlt. Was ab Juli ein bisschen besser werden soll: Dann gelten Mindestlöhne von sieben Euro 50 im Osten und acht Euro 50 im Westen. Aber nur für die Pflege. Nicht für die Betreuung. „Das Geld könnte schon mehr sein“, sagt Sabine Hoffmann, die mit ihren 30 Wochenstunden weiter auf ergänzende Hilfen vom Amt angewiesen ist. Aber sie hat einen Arbeitsvertrag. Einen richtigen Arbeitsvertrag. Befristet zwar, aber egal. Sie gehört wieder dazu. Ein Wunder. Nach so vielen Jahren in Maßnahmen.

„Drum frisch hinaus ins freie Feld,

ins grüne Feld hinaus!

Der Frühling hat sich eingestellt;

wer bliebe da zu Haus?“

Ha-ha. Wir nicht!, ruft Ursula Richter und lächelt kurz.

– Und wann gibt es Mittag?

– Halb zwölf.

– Und wie spät ist es jetzt?

Man müsse schon freundlich fünfmal dasselbe sagen können, sagt Sabine Hoffmann, als sie nach dem Mittagessen – die meisten Bewohner haben sich hingelegt – die Dokumentation für den Tag ausfüllt. In Listen Kürzel einträgt, damit jeder weiß, mit wem sie was gemacht hat. Für je 25 demente Bewohner gewähren die Pflegekassen nach Bewilligung entsprechender Anträge dem Pflegeheim einen Betreuungsassistenten. Im St.-Albertus- Seniorenheim der Caritas gibt es 44 Bewohner mit anerkannter Demenz. Fast jeder zweite der 100 Bewohner. Ihnen gegenüber stehen in der Pflege 40 Teilzeitkräfte und in der Betreuung: eine Ordensschwester, neun Ein-Euro-Jobber, 16 Ehrenamtliche und drei 30-Stunden- Kräfte, von denen zwei die neuen Betreuungsassistentinnen sind.

In die Gestaltung des Seniorenheims, das in einer restaurierten Brauerei residiert, flossen neueste gerontopsychologische Erkenntnisse ein. Weil zur Demenz ein hoher Bewegungsdrang gehört, wurde auf lange Flure verzichtet, auf denen es nur hin oder her geht. Jetzt marschieren die Alten um Sitzecken, Sesselgruppen, Säulen herum. Es gibt wenig Krankenhausmobiliar, sondern alte Holzanrichten und aufwendige Buffets, in denen zartes Kaffeeporzellan präsentiert wird, an den Wänden kleben Tapeten.

Seit es die Betreuungsassistenten gibt, seien die Bewohner zufriedener und umgänglicher, das würden die Pflegekräfte merken, sagen die Verantwortlichen im Caritasheim. Seit sie den Arbeitsvertrag habe, sei sie viel ruhiger und ausgeglichener, sagt Sabine Hoffmann.

Am Ende des Arbeitstages schlafen ihr dann noch die Beine ein. Als sie etwas mehr als eine halbe Stunde neben Frau Walde hockt, die nach der Mittagsruhe nun im Ohrensessel im Flur sitzt, der so hell ist, weil er Deckenlicht hat. Es hat sich allerlei angestaut in Frau Walde.

Angefangen hat sie mit den Blusen und Pullovern, die ihr die Tochter bringt und die sie nicht mag. Dass sie aber nicht mehr allein einkaufen könne, dass sie überhaupt hier festsitze, wie im Gefängnis, „keine Zukunft hat man, schrecklich ist das“, sagt sie. Dass sie mal raus wolle, ins Theater. Dass sie schon sieben Jahre hier sei und die Nase voll habe, eine eigene Wohnung wolle sie, müsse ja nicht groß sein, Essen wird geliefert, so was gibt es doch, und hier das Essen schmecke ja auch nicht.

Sabine Hoffmann hört sich das neben dem Sessel hockend an. Ab und zu sagt sie etwas. Dass die Tochter es gut meine, dass es vorm Haus den schönen Garten gebe, dass es auch langweilig sei, den ganzen Tag allein zu Hause. Nicht, dass die Einwände Gehör fänden, aber als Sabine Hoffmann sich an jenem Dienstag kurz vor 15 Uhr zur Beendigung ihres Arbeitstages mit schmerzverzerrter Miene hochstemmt, sagt Frau Walde, während sie weiter mit dem Taschentuch ihre Fingernägel poliert, ganz klar und wach und gegenwärtig: „Schönen Dank, dass Sie so lange zugehört haben.“

*) Namen geändert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false