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Schriftsteller Andrea Camilleri begann erst 1994 mit den Krimis um Commissario Montalbano.

© IMAGO

Andrea Camilleri: Der Schöpfer von Commissario Montalbano wird 90

Mit seinen Krimis um Commissario Montalbano wurde der Sizilianer Andrea Camilleri weltberühmt. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Interviews? Nein, teilt seine Agentin mit: Interviews gibt Andrea Camilleri erst nächste Woche. Frühestens. Das Leben geht ja weiter: auch nach dem 90. Geburtstag, auch nach dem 100. Buch. In alter Frische. In der Frische eines Alters, die den Sizilianer zu einem literarischen Phänomen sondergleichen hat werden lassen. Denn als Commissario Montalbano das Licht der Welt erblickte, 1994, da war dessen Vater auch schon fast 70.

Seither jagen Krimifans in mittlerweile mehr als 100 Sprachen nach Montalbano, und ein Montalbano jagt den nächsten, jedes Jahr ein neuer Band, zur besten Ferienzeit, leichte flockige Lektüre mit dem Flair und dem Flimmern einer sonnendurchfluteten Urlaubslandschaft. Dazwischen gibt’s Montalbano-Erzählungen, einzelne, gesammelte, und natürlich: den Commissario als Fernsehserienstar in einer heute unüberschaubaren Zahl von Ländern.

Der Bulle ist für Andrea Camilleri vor allem ein Vehikel

Dabei ist dieser "sbirro", dieser "Bulle", für Camilleri in erster Linie ein Vehikel. Montalbanos Ruf sichert ihm Verkaufserfolge bei Werken, auf die er mehr Wert legt: bei seinen historischen Romanen, in denen er als Chronist vergessener sizilianischer Geschichten aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert auftritt. Tragödien, Burlesken, Randnotizen. "Ich habe keinerlei Fantasie", sagt Camilleri, "ich brauche als Grundlage immer reale Vorgänge", beim Commissario ebenso wie für die historischen Romane.

Aber Vorsicht: Jenes "Vigàta", in dem all diese Geschichten spielen, und nach dem jedes Jahr tausende real existierender, zahlungskräftiger Touristen suchen, ist laut Camilleri "der allererfundenste Mittelpunkt des allertypischsten Siziliens". Und die Geschichten, sie sind Fantasie und Realität in undurchdringlicher Vermischung, Alles ist, weil alles sein könnte. Imagination. Die Erschaffung einer Welt, die dem Leser in seinen ureigenen Vorstellungen, in seinen Vorurteilen und seinen Sehnsüchten von Italien und dessen flirrendem Mezzogiorno so weit entgegenkommt, dass er sich ab spätestens der zweiten Seite zu Hause fühlt.

Und alle sind verstrickt: Montalbano als Hüter des Gesetzes in genau diesem Vigàta bewohnt eine Villa so nahe am Strand, dass es sich nach italienischem Recht nur um einen Schwarzbau handeln kann. In der "Sekte der Engel" eliminiert ein frommes Dorf, das selbstredend in überhaupt gar keiner Weise an massivem Kindesmissbrauch beteiligt war, den einzigen Unschuldigen. Und wie man "La rizzagliata", Camilleris wohl dichtesten, aktuellsten Gesellschaftsroman, in der deutschen Übersetzung betiteln konnte mit "Das Netz der großen Fische", bleibt rätselhaft: Sicher haben auch Politiker, Mafiosi und andere übliche Verdächtige mit dem Tod einer gewissen Amalia Sacerdote zu tun, so etwas liest man ja auch gerne.

Er erreicht mühelos das Erzählniveau von Leonardo Sciascia

Aber Camilleri wirft sein Netz viel weiter – und zieht es erbarmungslos zu. Da erreicht Camilleri mühelos das Erzählniveau von Leonardo Sciascia, seinem Vorbild und "Mentor", der dem damaligen Theatermann und Regisseur von Fernsehkrimis die Tür zum Literaturbetrieb öffnete. Doch ist bei Camilleri noch wesentlich mehr Literatur verarbeitet. Da ist – unter vielen anderen – der Sizilianer Luigi Pirandello; da ist ferner der spanische Groß-Krimiautor Manuel Vázquez Montalbán (gestorben 2003), den Camilleri im Namen seines eigenen Kommissars verewigt hat. Und da ist vor allem Georges Simenon mit seinem Kommissar Maigret, bei dem Camilleri vor lauter Begeisterung anfangs "aufpassen musste, ihn nicht allzu sehr zu plagiieren".

Camilleri schreibt seine Krimis durchaus mit Blick auf Lesermassen. Obwohl bekennender Kommunist, erlaubt er sich in seinen Romanen keine ideologisch getönte Spiegelung der italienischen Gesellschaft. Gerade bei Montalbano, sagte er einmal, könne er sich so etwas überhaupt nicht leisten: "Ein Leser aus der rechten Ecke hat mir geschrieben, ich dürfe dem Commissario nicht meine politischen Ideen überstülpen. Es sei ja auch seiner."

"In Pantoffeln kann ich nicht schreiben"

Und so schreibt Camilleri weiter. Jeden Morgen um sieben Uhr wirft er in seinem römischen Stübchen den Computer an, fertig rasiert und tadellos angezogen, als ginge er ins Büro: "In Pantoffeln kann ich nicht schreiben." Und so mathematisch genau, wie er dreieinhalb Stunden am Stück schreibt, so vermisst er auch die Kapitel seines Commissario Montalbano. 18 sind es pro Band, und jedes bekommt exakt zehn Seiten auf dem Computer zugeteilt. "Wenn ich das nicht schaffe, weiß ich, dass mit dem Erzählfluss etwas nicht stimmt. Dann schreibe ich alles um", sagt er mit einer Stimme, dessen Klang die täglich drei Schachteln Zigaretten nicht verleugnen kann. Allein der Whisky, der ist Geschichte, seit einem Schlaganfall vor Jahren, den Camilleri als Fingerzeig auffasste.

Der letzte Band bereits im Tresor des Verlags

Commissario Montalbano hätte eigentlich nach zwei Bänden abtreten sollen. Heute sieht sich Camilleri auf jeder Buchmesse, bei jeder Lesung gezwungen, den in dichten Schwärmen auf ihn eindrängenden Lesern zu versichern, er werde "nicht sterben". Also, jedenfalls Montalbano nicht. Für alle anderen Fälle liegt der letzte Band bereits im Tresor des Verlags – mit einer, wie es heißt, literarisch sehr überraschenden Lösung eines irgendwann unausweichlichen Problems.

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