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Panorama: Bangen um Lea und Tabea

Gestern begann in Baltimore die Marathon-Operation der siamesischen Zwillinge aus Deutschland – sie kann 48 Stunden dauern

Gestern am Vormittag war es soweit. Die Ärzte der Johns Hopkins Kinderklinik in Baltimore begannen mit der Trennung der am Kopf zusammengewachsenen siamesischen Zwillinge Tabea und Lea aus Deutschland. Drei Monate schon leben die beiden einjährigen Mädchen aus Lemgo in Ostwestfalen gemeinsam mit ihren Eltern in einem Apartment in Baltimore. Zeit für die Familie, aber auch Zeit für Spezialisten und Ärzte, sich auf diese äußerst komplizierte Operation vorzubereiten. „Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Mädchen bei der Operation sterben, ist nicht gering“, sagt der leitende Anästhesist Myron Yaster dem „Stern“. Das Magazin hat mit den Eltern einen Exklusivvertrag und verbreitete ein Foto von der Familie über dpa.

Die Überlebenschance liegt bei etwa 50 Prozent. Die Trennung von am Kopf zusammengewachsenen siamesischen Zwillingen gehört zu den aufwendigsten Operationen überhaupt. Mindestens 24 Stunden haben daher die Ärzte für die Trennung der beiden deutschen Mädchen angesetzt. Aber auch eine Operation von 48 Stunden ist nicht unwahrscheinlich. 50 Ärzte und Helfer versuchen in drei- bis vierstündigen Schichten, das Leben der Kinder zu retten. Wie die Operation verlaufen wird, wie es den Zwillingen nachher geht – niemand kann es sagen.

Doch die Eltern Nelly und Peter Block wissen ihre Kinder in erfahrenen Händen: Für den leitenden Arzt und Neurochirurgen Benjamin Carson ist es nicht die erste Operation dieser Art. Insgesamt fünfmal war Carson schon an der Trennung siamesischer Zwillinge beteiligt. Dennoch: „Eine riskantere Operation als diese gibt es nicht“, sagt selbst der Chirurg. Doch wie das Leben von Lea und Tabea ohne einen solchen Eingriff aussähe, mag sich niemand wirklich vorstellen.

Seit ihrer Ankunft in den USA mussten die Kleinkinder daher einiges über sich ergehen lassen. Neben vielen Untersuchungen wurden ihnen zum Beispiel Silikonkissen eingepflanzt, die die Kopfhaut wie einen Expander dehnten. Grund: Die Haut sollte wachsen, um später zwei getrennte Köpfe bedecken zu können. Deshalb haben die Köpfe auf dem Foto so große ballonartige Auswüchse. Vorgestern dann kamen die Kinder in die Klinik und wurden bereits in Narkose versetzt – ein Venenkatheter, durch den während der Operation Medikamente oder Blut zugeführt werden kann, musste beiden Kindern unter die Brusthaut verlegt werden.

Dann erst begannen die Ärzte mit der schier unlösbaren Aufgabe: Denn wenn auch die Schädelknochen an manchen Stellen noch nicht verwachsen sind, Lea und Tabea teilen sich die harte Hirnhaut. Eine Tatsache, die die Trennung besonders riskant macht.

Die harte Hirnhaut, auch Dura Mater genannt, schützt nicht nur das Gehirn vor Krankheitskeimen. Zwischen ihren Schichten verlaufen auch jene wichtigen Kanäle, die einen Großteil des aus dem Gehirn abfließenden Blutes zurück zum Herzen transportieren und somit die Sauerstoffversorgung des Gehirns gewährleisten. Ein Eingriff in dieses Netz lebenswichtiger Blutgefäße könnte den Tod bedeuten. Die Ärzte wissen das. Doch sollen Lea und Tabea die gleichen Überlebenschancen haben, ist dieser Schritt unausweichlich. Es wird der erste wirklich kritische Moment im Verlauf der Operation sein.

Weiter und weiter dringen die Neurochirurgen in die Tiefen der Gehirne ein, Blutgefäß für Blutgefäß wird getrennt. Erst dann kann auch das letzte die Kinder noch verbindende Knochenstück geteilt werden. Dann sind die Köpfe von Lea und Tabea endgültig getrennt und je ein Ärzteteam kümmert sich um die Versorgung je eines Kindes.

Um überhaupt an die Gefäße heranzukommen, mussten die Chirurgen zu Beginn der Operation einen mehrere Zentimeter breiten Knochenstreifen an der Verbindungsstelle der Köpfe heraustrennen. Dieser soll schließlich in der letzten Phase der Operation geteilt werden.

Die Knochenplatten werden zum Verschließen der beiden Kinderschädel gebraucht. Dann soll die Haut vernäht werden und Tabea und Lea kommen auf die Intensivstation. Jedes Mädchen in ein eigenes Bett. Nebeneinander vielleicht. Wenn alles gut geht, werden sich die beiden Kinder bald zum ersten Mal direkt in die Augen schauen können.

Nelly und Peter Block werden zum ersten Mal je eines ihrer beiden kleinen Mädchen in den Armen halten können. Noch aber weiß niemand, ob Tabea und Lea es schaffen werden, ob sie je ein normales Leben führen werden.

Sicher aber ist: An diesem Wochenende bangen nicht nur ihre Eltern, Freunde und Nachbarn, an diesem Wochenende bangt die ganze Welt mit den zwei kleinen Mädchen aus Lemgo.

Julia Thurau

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