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Besuch in Waterloo: Napoleons verlorenes Finale

Mit dem Namen Waterloo verbindet sich bis heute eine Niederlage, nach der kein Comeback mehr möglich ist. Harald Martenstein hat das Schlachtfeld in Belgien besucht und weiß, was der alte Mythos mit Christian Wulff und Felix Magath zu tun hat.

Eines der wichtigsten Ausstellungsstücke im Museum von Waterloo ist das Holzbein von Lord Uxbridge. Der Lord kommandierte die britische Kavallerie, unglücklicherweise wurde dabei sein linkes Bein von einer französischen Kugel zerfetzt. Die Amputation erfolgte noch auf dem Schlachtfeld. Betäubungsmaßnahmen waren bei Soldaten unüblich, hohe Offiziere wie Uxbridge hatten oft eine Dosis Opium im Gepäck.

Das abgetrennte Heldenbein wurde in Waterloo mit großem Brimborium bestattet, sein Grab war lange ein Lieblingsziel britischer Schlachtenbummler. 1854 starb Lord Uxbridge, man exhumierte das Bein, schaffte es nach England und begrub es mit den anderen Überresten des Lords. Zum Ausgleich bekam Waterloo die Prothese. Unter anderem sind Königin Elisabeth sowie, zu ihrer aktiven Zeit, die Popgruppe „Abba“ nach Waterloo gefahren, und haben sich dort die Prothese nachweislich angeschaut. Abba hatte ja diesen Hit, der „Waterloo“ heißt.

Wenn die Kriege lange her sind, ändert sich der Blickwinkel der Nachgeborenen. Das Tragische tritt in den Hintergrund, das Publikum betrachtet das jetzt, aus sicherem Abstand, eher wie ein Fußballspiel mit Todesfolge. Es gibt auch jede Menge Anekdoten rund um Waterloo, und Typen, die ein bisschen an Oliver Kahn erinnern. Etwa General Cambronne, dessen Garde, die Elitetruppe des Kaisers Napoleon, umzingelt war und zur Kapitulation aufgefordert wurde. Als Antwort, heißt es, soll er geschrien haben: „Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht! Scheiße!“ Oder General Picton, dessen Uniform auf dem Postweg verloren ging, und der in Zivil an der Schlacht teilnahm, mit Zylinder. Oder Marschall Ney, dem fünf Pferde unter dem Hintern erschossen wurden, und der gegen Ende des Gemetzels auf dem Feld umherirrte und immer wieder rief: „Gibt es denn keine Kugel für mich?“ Es gab keine.

Waterloo ist heute eine auf den ersten Blick ziemlich langweilige Kleinstadt von 30 000 Einwohnern, 15 Kilometer von Brüssel entfernt. Man spricht französisch, die Sprachgrenze zu den Flamen liegt ein paar Dörfer entfernt. In Waterloo befindet sich unter anderem die Europa-Zentrale des Unternehmens Mastercard. Die eigentliche Schlacht hat auf dem Gebiet des Nachbardorfes Braine l’Alleud stattgefunden, aber das Hauptquartier des Siegers, des Marschalls Wellington, befand sich halt in Waterloo. Und es ist immer der Sieger, der die Sprachregelungen bestimmt. „Braine l’Alleud“ hätten die Engländer gar nicht aussprechen können.

Kaum waren die Leichen weggeräumt, setzte der Tourismus ein. Die große Ulme, unter der Wellington sich während der Schlacht aufgehalten hatte, wurde von Souvenirjägern, im Stil der Berliner Mauerspechte, ruckzuck weggehobelt. Lord Byron besuchte das Schlachtfeld im Mai 1816, während der Besichtigung sang er. Und als 1839 Karl Baedeker seinen ersten Reiseführer „Belgien“ herausbrachte, widmete er Waterloo ein Kapitel.

In den folgenden 200 Jahren wurde das Geschehen sieben Mal verfilmt, allein auf dem Schlachtfeld wurden 175 Kriegsdenkmäler errichtet, für jede teilnehmende Nation, für einzelne Regimenter, für gefallene Helden. 125 Orte der Welt erhielten den Namen „Waterloo“, darunter auch ein Dorf in Brandenburg und ein Städtchen in Sierra Leone. In Berlin benannten sie Straßen nach Blücher und Gneisenau. Heute wird das wahrscheinlich populärste Schlachtfeld der Welt von jährlich zwei Millionen Menschen besucht, mit wachsendem Chinesenanteil.

Im Museum wird ein Waterloo-Brettspiel verkauft (12 Euro), und etwa alle 14 Tage, zumindest im Sommer, wird das Geschehen auf den Wiesen nachgespielt. Ein besonders einleuchtendes Souvenir ist die Parkscheibe mit dem Aufdruck „Waterloo“. Denn die Ankunftszeit, in diesem Falle der Preußen, spielte ja auch bei der Schlacht eine schicksalhafte Rolle.

Keine Schlacht der Geschichte ist so fest verwurzelt im Sprachgebrauch fast aller Völker. Und auch im vergangenen Jahr gab es wieder Menschen, die ihr Waterloo erlebten. Frage: Welche zwei von den folgenden fünf erwischte es 2012? Christian Wulff. Mitt Romney. Norbert Röttgen. Felix Magath. Nicolas Sarkozy. Die Auflösung folgt weiter hinten. Doch ist Waterloo wirklich so wichtig gewesen?

Am 1. März 1815 landet Napoleon, den sie auf die Insel Elba verbannt hatten, mit einer Handvoll Soldaten wieder in Frankreich, wo inzwischen ein Bourbonenkönig regiert. Die Reaktion hatte gesiegt, die Revolution und ihr Nachspiel waren vorbei. Es lief ja 1789 in Frankreich ähnlich wie 1917 in Russland – zuerst rebellierte das Volk. Und am Ende bekam das Volk statt eines etwas blassen Monarchen halt einen Diktator mit Appetit auf Ruhm und Blut.

Im Mai 1815 funktioniert Napoleons Charisma noch. Marschall Ney wird ihm entgegengeschickt, um ihn zu verhaften, er läuft mit seinen Truppen über. Ein paar Tage später ist Napoleon wieder Kaiser in Paris. Ganz Europa erklärt ihm den Krieg. Napoleon will, wie gewohnt, einen Gegner nach dem anderen schlagen. Die Soldaten lieben ihn. Siegen, gegen eine Übermacht? Das kann er.

Auf beiden Seiten kämpfen Männer aus fast allen Ländern Europas. Einer meiner Vorfahren ist damals, aus Begeisterung für die Republik, nach Frankreich gegangen und wurde Offizier unter Kaiser Napoleon, so, wie später manche aus Begeisterung für die Räterepublik nach Russland gingen und am Ende für Stalin arbeiteten. Irgendwo in Norditalien soll ein Gedenkstein für meinen Ahnen stehen.

Der Erinnerungsfaden, der uns Heutige mit dieser Epoche verbindet, ist noch nicht ganz gerissen. Erst 1900 starb die letzte Augenzeugin der Schlacht, ein Bauernmädchen, das sich erinnern konnte oder es vorgab, sie war eine Zeitgenossin meines Großvaters.

Im Grunde ist es ein Weltkrieg, der erste Akt eines Dramas, das 1914 und 1939 fortgesetzt wird. Napoleon ist, wie später Hitler oder Stalin, gleichzeitig Diktator und Verwalter einer weltumspannenden Ideologie, hier sind es die Ideen der Aufklärung. Hitler und Napoleon wollen beide, so paradox es klingt, ein vereintes Europa, nur eben ein unfreiwillig vereintes. Eines, das unter der Herrschaft von Frankreich oder Deutschland steht.

Über den Verlauf der Schlacht, die sich, inklusive Vorgeplänkel, vom 15. bis 18. Juni hinzieht, lassen sich mühelos Hunderte von Seiten schreiben. Napoleon steht zwei Heeren gegenüber, einerseits einer Multikulti-Truppe unter Wellington, bestehend aus Briten, Holländern, Belgiern, Hannoveranern, Braunschweigern und Hessen, andererseits den Preußen unter Blücher. Napoleon nimmt sich die Preußen vor und besiegt sie bei Ligny, Ney erzielt bei Quatre-Bras ein Unentschieden gegen Wellington. Nun vereinen sich die Truppen von Ney und Napoleon, um Wellington in der dritten Runde den Rest zu geben.

In der Nacht zum 18. Juni schüttet es, die Soldaten schlafen im Schlamm. Am nächsten Tag töten sie einander etwa zehn Stunden lang. Sie bewegen sich auf einer sanft gewellten, weiten Fläche, bedeckt mit Feldern. Auf drei mal fünf Kilometern drängen sich am Nachmittag rund 200 000 Mann, von denen mindestens 50 000 den nächsten Morgen nicht erleben. Den alten Blücher, 73, Spitzname: Marschall Vorwärts, hatte Napoleon gar nicht mehr auf der Rechnung. Aber Blüchers Preußen haben sich nach ihrer Niederlage wieder gesammelt und kommen Wellington gegen 16 Uhr 30 zu Hilfe, das entscheidet die Sache endgültig.

Die Soldaten beider Seiten gehen in geschlossenen Reihen aufeinander zu. Die Kommandeure haben auf Hügeln Posten bezogen, wegen des Überblicks. Dazu muss man sich Musik vorstellen, Trommeln, Dudelsäcke. Die Gewehre sind nicht sehr zielsicher. Wer die stärkeren Nerven hat, lässt den Feind als Erstes eine Salve feuern, in etwa 30 Metern Entfernung, sicher, dabei sterben viele. Dann aber muss der Feind laden, was eine halbe Minute dauert und dem Gegner Zeit lässt, näher heranzurücken und selbst eine noch viel vernichtendere Salve zu feuern. Sich zu ducken, gilt als feige.

Die meisten Militärhistoriker suchen heute die Ursache für Napoleons Niederlage bei Napoleon selbst. Man sagt, dass die Franzosen das bessere Heer besaßen, bei Wellington hatten sie ja nicht mal eine gemeinsame Sprache, es ging zu wie im Kader des VfL Wolfsburg. Aber der Kaiser überschätzte wohl seine Erfolge und unterschätzte seine Gegner, letztlich war er ein Feldherr wie Hitler, einer, der sich irrtümlich für ein Genie hält. Er ist 46 Jahre alt, an diesem Tag. Bei der Flucht lässt er Hut, Mantel und Degen zurück. Der Hut wird heute im Berliner Historischen Museum ausgestellt. In den Mantel war ein Notgroschen eingenäht, Brillanten im Wert von einer Million Francs.

Napoleon verliert an diesem Tag nicht einfach eine Schlacht, er verliert seinen Mythos. Waterloo ist eine Niederlage, nach der kein Comeback mehr möglich ist. Christian Wulff wird nie wieder Präsident sein, Mitt Romney nie wieder Kandidat. Bei Magath, Röttgen und Sarkozy ist das noch nicht sicher. Felix Magath kann wieder als Trainer arbeiten, Norbert Röttgen eines Tages wieder Minister sein, sogar die Rückkehr von Nicolas Sarkozy ins Präsidentenamt ist nicht ausgeschlossen.

Nach der Schlacht strömen Plünderer auf das Feld, meist Bauern aus den umliegenden Dörfern. Die Toten werden von den Plünderern nackt ausgezogen. Die Verwundeten schreien nach Hilfe und Wasser. Auch 10 000 Pferde sind tot oder krepieren langsam. Zwischen all dem irren Frauen umher, weinend, nicht wenige sind den Heeren gefolgt und suchen jetzt ihre sterbenden Männer.

1826 hat man einen Hügel aufgeschüttet, zum Gedenken und zur besseren Übersicht. Auf der Spitze des Hügels steht ein Löwe, der aus erbeuteten französischen Waffen gegossen wurde. Rund um den Hügel befinden sich mehrere Museen, darunter eines mit Wachsfiguren, zwei Kinos und das Panorama – ein gewaltiger Kuppelbau von 1912, den ein Team unter Leitung des Marinemalers Louis Dumoulin innen mit realistischen, lebensgroßen Szenen gestaltet hat, das Bild soll die Waterloo-Situation am 18. Juni um genau 18 Uhr darstellen. Dazu hört man ziemlich laut Stöhnen, Wiehern und Kanonendonner.

Die Illusion ist nicht perfekt, aber doch eindrucksvoll, und besonders beliebt bei Familien mit Kindern. Die Kinder wollen immer sofort wissen, wo auf dem Bild sich die Soldaten der eigenen Nation befinden. Mama, wo sind die Belgier? Haben die Belgier gewonnen? Es hat wirklich was von Fußball-Europameisterschaft.

Im Kino zeigen sie unter anderem Ausschnitte aus dem Waterloo-Spielfilm des Russen Sergej Bondartschuk, 1970. In den Filmen kommen die Preußen schlecht weg. In einer Szene sieht man Blücher, der hier aussieht wie ein Albert Einstein auf schwerem LSD-Trip, wie er die preußischen Soldaten anfeuert: „Keine Gefangenen! Ich erschieße jeden, der Mitleid mit einem Franzosen zeigt!“

So war es. Die Preußen haben die Verfolgung der fliehenden Truppen Napoleons übernommen und, im Gegensatz zu den Briten, alles niedergemetzelt, was ihnen in die Hände fiel. So sah ihre Rache für zahlreiche Niederlagen aus und für etliche Jahre französische Besatzung: noch ein Krieg, in dem Deutsche die Schurkenrolle spielen. Obwohl es bei Wellington auch eine deutsche Fremdenlegion gab, „The King’s German Legion“, die aus deutschen Flüchtlingen bestand und von der kaum jemand überlebte.

Nach der Schlacht setzt Wellington sich an den Schreibtisch und verfasst einen Bericht für den englischen König. Er wird mit dem Titel „Prinz von Waterloo“ belohnt und später Premierminister. In seiner Residenz, Apsley House, wird er jährlich ein Festbankett für seine Veteranen veranstalten. Wie Gemälde zeigen, sind die Partnerinnen dabei offenbar nicht eingeladen. Marschall Ney aber bekommt endlich seine Kugel, er wird von den Siegern als Verräter hingerichtet. Frankreich wird besetzt, für drei Jahre, und muss Reparationen zahlen, wie Deutschland 1918.

Hat in Waterloo die Reaktion gesiegt, das alte Europa der Fürsten gegen das neue Europa von was auch immer, der Menschenrechte vielleicht? Schwer zu sagen. Die Fürsten werden nie mehr so fest im Sattel sitzen wie vor der französischen Revolution, im Grunde kann die neue Zeit sowieso keiner mehr aufhalten. Das Ergebnis der Schlacht von Waterloo sind vor allem ein paar Jahrzehnte Frieden, wie meistens nach einem großen Krieg. Frankreich scheidet 1815 aus der Gruppe der potenziellen Weltmächte aus, auch wenn viele Franzosen es bis heute nicht gemerkt haben. Deutschland, Großbritannien, Russland und die USA bleiben übrig, und über die Felder von Waterloo rollen noch zwei weitere Kriege hinweg.

Im Stadtmuseum, das nichts mit der Schlacht von 1815 zu tun hat, hängt ein Foto. Es zeigt deutsche Soldaten, die sich im September 1944 vor den Amerikanern aus Waterloo zurückziehen. Sie sitzen auf Fahrrädern, mit umgehängten Gewehren. Ein seltsames Bild, Massen von Soldaten auf Rädern, Männer, die vielleicht gerade um ihr Leben strampeln. Ihre Gesichter sind unscharf, aber wenn man nahe herangeht, glaubt man, die gleiche Angst zu erkennen wie auf den alten Gemälden.

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