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Ursula Sarrazin. Ihr Buch "Hexenjagd" darf nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs nicht mehr wie bisher vertrieben werden.

© Thilo Rückeis

BGH-Urteil über Buch von Berliner Lehrerin: Ursula Sarrazin schrieb zu ausführlich über Defizite eines Kindes

Hochbegabt, meinte die Mutter über ihre Tochter. Unreif, befand die Lehrerin Ursula Sarrazin. Wie der Bundesgerichtshof den Streit um die Beurteilung einer Schülerin beendete.

Der durchaus tägliche Streit zwischen Eltern und Lehrern um deren Schüler – im Fall einer Berliner Mutter und der früheren Lehrerin Ursula Sarrazin wurde er auf die Spitze getrieben. Es darf darüber gestritten werden, wer dabei die meisten oder die schwereren Fehler machte. Fest steht nun, wer überzogen hat: Ursula Sarrazin, die Frau des ehemaligen Berliner Finanzsenators und Buchautorin wie dieser, wenngleich nicht so erfolgreich.

Nach jahrelangem Rechtsstreit hat der Bundesgerichtshof (BGH) jetzt entschieden, dass ihr Werk „Hexenjagd – mein Schuldienst in Berlin“ nicht mehr wie bisher vertrieben werden darf (Az.: VI ZR 175/14). Zu ausführlich habe die Pädagogin darin die Defizite eines namentlich genannten Kindes beschrieben und dadurch dessen Persönlichkeitsrecht „in seiner Ausprägung als Recht auf ungestörte kindgemäße Entwicklung“ beeinträchtigt, wie es im Leitsatz des Urteils heißt.

Dabei ging es nicht um ein problematisches Kind, sondern, im Gegenteil, um ein nachweislich hochbegabtes – meint jedenfalls die Mutter, die sich dabei auf die Mitgliedschaft ihrer Tochter im Intelligenzclub „Mensa“ beruft. Nach einem Schulwechsel kam jene Ende 2007 probeweise in eine dritte Klasse, die zweite sollte sie nach dem Wunsch der Eltern überspringen. In der Dritten lehrte Frau Sarrazin, der das Kind allerdings noch nicht weit genug erschien. Eine lange Auseinandersetzung schloss sich an, welche die Mutter ein Jahr später sogar veranlasste, sich an die Presse zu wenden.

Damit setzte sich der Ärger öffentlich fort, nun vor allem für Frau Sarrazin. Neue Beschwerden tauchten auf, alte wurden aufgewärmt. Die Beamtin, heute im Vorruhestand, sah sich von Gegnern umstellt. Ein Übriges tat 2010 die Buchveröffentlichung ihres Mannes „Deutschland schafft sich ab“, in der dieser gelegentlich hellsichtige Analyse mit allerlei Klischees und chauvinistischem Geraune verrührte. Fortan fand sich das Paar in der politisch rechten Ecke wieder, und als wolle es diesen Standort festigen, erschien zwei Jahre später Ursula Sarrazins „Hexenjagd“; eine Abrechnung mit Verwaltung, Eltern und Kollegen auf der Folie konservativ-bildungsbürgerlicher Kritik an der Reformeritis im Schulwesen.

"Beim Lesen hatte sie Mühe, den Sinn zu erfassen"

So ziemlich jeder bekam sein Fett weg, der aus Sicht der Autorin stümperte. Auch die angeblich Hochbegabte: „Ich sah mir das Kind genauer an. Es war ein aufgeschlossenes Mädchen, aber es stellte sich heraus, dass es für ein drittes Schuljahr noch zu unreif war. Die anderen Mädchen waren ihm sozial überlegen, was sie ihrerseits mit Maulereien und Beleidigtsein quittierte. Sie schrieb noch sehr langsam und ungelenk. Beim Lesen hatte sie Mühe, den Sinn zu erfassen, weinte schnell, wenn etwas nicht gleich gelang, wie einen Würfel zu falten und zu kleben. Beim Rechnen wurden mir von der Fachlehrerin auch große Schwierigkeiten genannt, ebenso gab es im Fach Englisch Probleme.“

Eine solche Schilderung könnte man, angesichts der vollen Namensnennung, ungeachtet ihrer möglicherweise objektiven Richtigkeit als „hemmungsloses, bösartiges Mobbing“ beschreiben, ging es doch um eine Grundschülerin, deren kindlicher Entwicklungsstand hier plötzlich eine ganz große Bühne bekam.

Tatsächlich jedoch beschreibt die Autorin in diesen drastischen Worten aber nur, was ihr selbst, der Lehrerin, damals alles widerfahren sei. Die Mutter sagt heute, die Schulkarriere ihrer Tochter, die später erneut wechselte, sei „weitestgehend ruiniert“ durch das fachliche Wirken Sarrazins und der „Entscheidungsträger in der Schulbehörde“. Sie zog vor Gericht, als das Buch erschien.

Doch es geschah Erstaunliches. Die Berliner Gerichte, bei denen sie es im Eilverfahren versuchte, wiesen sie ab. Also ging sie mit dem Hauptverfahren nach Köln, wie es bei Klagen gegen Buch- oder Presseveröffentlichungen möglich ist. Dort bekam sie in der ersten Instanz zwar Recht, doch in der zweiten fiel sie durch. Das Oberlandesgericht hielt ihr ihren Gang in die Öffentlichkeit vor, den sie selbst ja zuvor schon unternommen hatte. Zudem habe Sarrazins Text „große gesellschaftspolitische Bedeutung“ und es bestehe nur geringe Gefahr, dass das Mädchen Anfeindungen und Hänseleien ausgesetzt sei.

"Wer dieses Buch anliest, der merkt doch, dass diese Lehrerin erwartet, daß Kinder genau so zu sein haben, wie sie sich das vorstellt. Kinder in die Form von Spalierobst gepreßt. Wer mit dieser Erwartungshaltung an Kinder die eigenen Kinder, erst recht Kinder anderer Eltern begleitet, erleidet Schiffsbruch."

schreibt NutzerIn konvertit

Das Urteil enthält auch einen beamtenrechtlichen Rüffel

Dieses etwas schiefe Bild rückten die Bundesrichter kürzlich gerade. Kinder sind besonders zu schützen, urteilten sie, zumal das Mädchen bei Erscheinen des Buchs zwölf Jahre gewesen sei und damit in der sensiblen Phase der Pubertät. Sie müsse es daher nicht hinnehmen, namentlich als sozial und emotional unreife „Möchtergernüberspringerin“ – eine Bezeichnung der Autorin – abgewertet zu werden. Und es folgt ein beamtenrechtlicher Rüffel: Eigentlich hätte Sarrazin schon wegen ihrer Stellung als Lehrerin über solche Details schweigen müssen.

Späte Rügen. Mit geringen praktischen Folgen. Das Kind hat das Übelste hinter sich. Und der Titel war ohnehin „keiner der wirklich großen Verkaufserfolge der letzten Jahrzehnte“, wie der Verlagsjustiziar resümiert, jedenfalls gemessen an den Bestsellern des Gatten. Mancher Leser habe vielleicht den Eindruck gehabt, die Autorin hätte ihre persönliche Geschichte und erlebten Ungerechtigkeiten „etwas weniger in den Vordergrund rücken sollen“. Ein Drittel der Auflage ging ins Altpapier.

Wer nun trotzdem noch das E-Book will, bekommt es in geänderter Version. Auch für die Mutter war alles nur ein Teilerfolg, denn eine Geldentschädigung hat sie vor dem BGH nicht durchsetzen können. „Viel Wut, Unverständnis und offene Fragen“ bleiben, sagt sie. Alles in allem wohl ein Kapitel, das sich alle Beteiligten wohl besser erspart hätten.

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