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Panorama: Bocksprünge über die Berliner Mauer

Unsere Leserin Sybille Schuchardt erzählt von Lehrern nahe am Leben und am Krieg

In meiner Schulzeit habe ich wenige wundervolle, etliche skurrile und einige fürchterliche Lehrer kennen gelernt. In der Schöneberger Grundschule begegnete mir das große Glück, dass ich mich willkommen fühlen durfte, gleich mehrfach. Unsere Rektorin war eine ältere, kleine Person mit großem Herzen. Beim Sport krempelte sie ihre Perlonstrümpfe herunter, um uns zu zeigen, wie wir in der Weitsprunggrube aufkommen sollten. Meine Klassenlehrerin beeindruckte mich durch ihre Schönheit und weil sie mir viel jünger vorkam als meine Mutter.

Der alte Erdkundelehrer mit ostpreußischer Tradition ließ sich gerne von uns dazu bringen, Anekdoten über gewaltige Elche, herrliche Seenplatten und Bernsteinfunde zu erzählen. Ich erinnere mich daran, wie er nach der Schwimmstunde im Klassenraum auf der Heizung seine riesige Badehose zum Trocknen ausbreitete. Unser Geschichtslehrer zeigte sich stets bereit, über die verlorenen Ostgebiete in epischer Breite zu trauern. Im Sportunterricht – das war Anfang der 60er Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer – illustrierte er das Bockspringen mit folgendem Bild: „Stellt euch vor, ihr müsst die Grenze überwinden. Der Stacheldrahtzaun ist elektrisch geladen. Ihr dürft ihn nur ganz kurz berühren wie jetzt hier das Leder beim Bockspringen.“

Besonders beliebt war ein Lehrer, der im fünften und sechsten Schuljahr unsere Lateinklasse unterrichte. Als Kriegsverwundeter trug er eine Unterschenkelprothese und verwandelte mit ausgeglichener Freundlichkeit und leisem Humor die tote Sprache Latein in eine lebendige. Er starb jung an den Folgen seiner Verletzung, hinterließ eine Frau und zwei kleine Kinder. Bei der Trauerfeier in der überfüllten Aula des Gymnasiums waren alle derart bewegt, dass unser Schulchor Mozarts „Ave verum“ unter Tränen kaum singen konnte.

Schließlich sei ein Studienrat erwähnt, der mich durch seinen interessanten, vor allem aber ermutigenden Unterricht in Sozialwissenschaften nachhaltig motivierte. Bei ihm erfuhr niemand demütigende Kritik, er überhörte Unsinn, nahm Halbrichtiges zur Kenntnis und ging auf Zutreffendes intensiv ein. Wir durften laut denken, lernen wurde zum kreativen Prozess. Niemand müsste heute über Pisa nachdenken, wären solcher Lehrerpersönlichkeiten nicht seltene Schätze, sondern eine klare Mehrheit.

Sibylle Schuchardt, 53 Jahre, ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin.

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