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Tanzen bis zum Umfallen. In den Straßen von Rio wird den ganzen Tag und die ganze Nacht gefeiert.

© REUTERS

Brasilien: Rio de Janeiro feiert schon seit dem 21. Januar Karneval

In Rio de Janeiro gibt es den offiziellen Karneval im Sambodromo und den Straßenkarneval – der tobt schon seit dem 21. Januar. Tag und Nacht tanzen die Menschen in den Gassen der Favelas.

Sie drängen sich knutschend in Hauseingänge, stehen pinkelnd hinter parkenden Autos, singen wie ein Mann – und eine Frau – im Bus „tschetschetsche-tschotschotscho-tschatschatscha“, tanzen in der U-Bahn, laufen zwei Wochen lang als Bayern, Gladiatoren und Fußbälle verkleidet herum, kippen Millionen Liter Bier in sich hinein, lutschen Caipirinha-Eis und hören nicht mehr auf zu trommeln.

Im Karneval ist Rio de Janeiro ganz bei sich selbst

Ja, es ist Karnevalsaison in Rio de Janeiro und die Stadt ist ganz bei sich selbst. Nicht vergessen, aber doch in den Hintergrund gerückt sind ihre Probleme: katastrophale Infrastruktur, exorbitante Vor-WM-Preise, Kriminalität auf den Straßen, Korruption im Polizeiapparat und eine unverschämte Ungleichheit. Im Vordergrund steht nun das Fest, bei dem die Grenzen verschwimmen und die Regelübertretung zur Norm wird: bunt, laut, besoffen und ziemlich verrückt. Einige Straßenumzüge starten morgens um sieben und sind um halb drei noch nicht vorüber. Andere beginnen um 20 Uhr und enden im Morgengrauen – wer will, kann rund um die Uhr feiern.

In Rio de Janeiro dauert der Straßenkarneval vom 21. Januar bis zum 9. März

Im Ausland kennt man vor allem den Umzug der Sambaschulen durchs Sambódromo vor 90 000 Zuschauern. Er gilt als der Höhepunkt des Karnevals, ist aber doch zu einer recht exklusiven Angelegenheit geworden. Der andere Karneval in Rio ist der „Carnaval da Rua“, der Straßenkarneval. Er hat dieses Jahr am 21. Januar begonnen und endet am 9. März. Erst danach fängt für die Bewohner von Rio das Jahr an, wird versichert.

Mit Seifenblasen vertreibt sich eine Frau die Zeit bis zum Partybeginn.
Mit Seifenblasen vertreibt sich eine Frau die Zeit bis zum Partybeginn.

© picture alliance / dpa

Rund 500 dieser Straßenumzugstruppen sind in Rio unterwegs. Sie führen Schlag- und Blasinstrumente mit sich und tragen Namen wie „Trockene Kehlen von Irajá“, „Himmel auf Erden“ oder „Christus' Achseln“ – der Gründungsort liegt unter der berühmten Statue. Es ist ein großes Fest zu Ehren von Dionysos, dem Lärmer und Sorgenbrecher. Einer der ungewöhnlichsten blocos Rios nennt sich „Aconteceu!“ - „es ist passiert“. Er stammt aus der Nachbarschaft des Viertels Santa Teresa. Wer von dort aus dem Wohnzimmerfenster blickt, schaut ich in das Labyrinth der Favela Fallet: rohe Ziegel, Wellblechdächer, übereinandergestapelt und verschachtelt. Der einzige freie Platz ist ein Fußballkäfig, den der örtliche Drogenboss bauen ließ. Er gehörte zur Drogengang „Comando Vermelho“ (CV). Unmittelbar rechts von Fallet liegt auf einem steilen Hügel die Favela Coroa. Sie war jahrelang fest in der Hand der mit dem CV verfeindeten Drogengang „Amigos dos Amigos“ (ADA). Zwischen den Favelas gab es fast täglich Schießereien. Dira, eine Bewohnerin, wohnt auf der einstigen Frontlinie. Sie erzählt, wie einmal neun Kugeln die Wände ihres Hauses durchschlugen – ihrer besten Freundin hatten die Eltern schon davor verboten, sie zu besuchen. Im Allgemeinen pflegten die Bewohner beider Favelas keinen Kontakt miteinander, denn es hätte von der jeweiligen Gang als Verrat ausgelegt werden können.

Die Bewohner der Favelas von Rio de Janeiro organisieren selber Straßenumzüge

Nur im Karneval setzten die Drogengangs ihr strenges Gesetz nicht durch. Also formten die Bewohner von Fallet, Coroa und anderen kleinen, in der Nähe gelegenen Favelas einen bloco: „Aconteceu!“ Es war der einzige Straßenumzug in Rio de Janeiro, der die Menschen aus verfeindeten Favelas vereinte.

Ein Problem gab es jedoch: Wo sollte der Umzug stattfinden? Man einigte sich auf Santa Teresa, neutrales Territorium. Es ging durch die engen kurvigen Gassen, immer entlang der alten Straßenbahnschienen, Favelianer und Santa Teresianer vereint, vier Stunden lang, die bateria – die Rhythmussektion – ließ die Luft erzittern, die Bläser schmetterten Fanfaren, ein großes Tanzen, Singen und Lachen.

Mit dabei waren auch Dira und ihre beste Freundin, die heute die porta-bandeira der Karnevalstruppe ist, ihre in ein opulentes Kleid gehüllte und unzählige Drehungen vollführende Bannerträgerin. Sie besucht Dira nun regelmäßig. Die Situation in Fallet und Coroa hat sich beruhigt, seit vor vier Jahren die sogenannte Friedenspolizei (UPP) in beide Favelas eingerückt ist. Sie hat dafür gesorgt, dass nicht mehr geschossen wird und man sich in den Favelas frei bewegen kann.

Der Drogenhandel geht trotzdem weiter. Insider sagen, er werde jetzt von der Polizei organisiert. Ohnehin hat die UPP wegen ihres häufig aggressiven Auftretens gegenüber den Bewohnern nicht das beste Image. Vielleicht gründete sie auch deshalb letztes Jahr ihren ersten Straßenkarnevalsverein. Gemeinsam mit Bewohnern der Favelas Mangueira und Tuiuti formte man den „Bloco da Paz“, den Friedensblock. Er scheint nicht überlebt zu haben, es gibt keinen Eintrag mehr für ihn.

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