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Juan Illanes (li.) und Mario Sepulveda (re.) gehören zu den 33 eingeschlossenen Minenarbeitern. Hier sind sie mit einem herabgefallenen Bohrer zu sehen.

© dpa

Chile: Im Verlies der verschütteten Bergleute

Plötzlich diese Euphorie: Bald schon könnten die 33 Kumpel befreit sein. Aus der Angst in Chile ist Hoffnung geworden. Nur einer kann sich nicht freuen.

Seit 45 Tagen wünscht sich Daniel Sandersson jeden Morgen, er könnte die Zeit zurückdrehen und alles richtig machen. Es wäre dann der 5. August, der Tag an dem in Copiapó das Bergwerk San José eingestürzt ist und 33 Bergarbeiter in 700 Metern Tiefe lebendig begraben hat. Er würde seine beiden Cousins und die anderen 31 Bergarbeiter daran hindern, in die Mine zu fahren und nach Kupfer und Gold zu schürfen. Denn Sandersson hatte das Unglück kommen sehen.

In der Wirklichkeit sagte er nichts. Er ging nicht ans Telefon, als ihn einer seiner Cousins anrief, um gemeinsam zur Mine zu fahren. Sie hätten zusammen Schicht gehabt. Doch weil der 27-Jährige am Vorabend von seinen Ahnungen erzählt hatte, ließ ihn seine Frau an jenem Morgen nicht in das Bergwerk gehen. Das hätte er seinem Cousin unmöglich sagen können, er hätte ihn Pantoffelheld genannt. Er ließ das Telefon klingeln.

Am Tag nach dem Unglück ist Sandersson frühmorgens zur Mine gefahren und seitdem kein einziges Mal wieder weggegangen. Auch die Angehörigen der anderen Bergarbeiter haben ihre Zelte aufgeschlagen, genau oberhalb der Gänge, in denen die Kumpel eingeschlossen sind, mitten in der Atacama-Wüste, der trockensten Wüste der Welt. Mittlerweile bleiben nur noch wenige Angehörige rund um die Uhr im Zeltlager, die meisten fahren jeden Abend zurück in das Dorf Copiapó. Die Menschen sind entspannt, fast euphorisch, seitdem sie wissen, dass ihre Brüder, Söhne und Ehemänner am Leben sind und dass alles darangesetzt wird, sie aus ihrem Verlies zu befreien.

Seit vergangener Woche bahnen sich drei Bohrer gleichzeitig ihren Weg zu den Minenarbeitern, der schnellste soll die Kumpel aus dem Gefängnis retten. Die Bohrer kommen gut voran, im Lager geht das Gerücht um, die 33 Bergarbeiter könnten vielleicht schon in der ersten Oktoberwoche frei sein. Auch wenn der chilenische Bergbauminister Laurence Golborne immer noch offiziell von November spricht.

Daniel Sandersson ist einer der wenigen, der immer noch jede Nacht an der Mine wacht. Er sagt: „Ich kann an nichts anderes denken. Ich muss hierbleiben.“ Das Warten auf die Rettung will er genauso erleben wie die Bergleute 700 Meter unter ihm, mit wenig Bewegungsfreiheit und nur dem Nötigsten zum Überleben. Sandersson will leiden, denn er fühlt sich schuldig.

Am Tag vor dem Unglück sollte er in 305 Meter Tiefe einen fünf Zentimeter breiten Spalt mit Zement auffüllen, eine Sicherungsmaßnahme. Doch während er arbeitete, öffnete sich der Spalt immer mehr, am Ende war er fast einen halben Meter breit. „Ich habe das Gefühl, dass da etwas nicht in Ordnung ist“, sagte er am Abend, als er sich am Ausgang der Mine neben seinen Cousins Pedro und Carlos umzog. Später meldete er den Zwischenfall seinen Vorgesetzten. Sie reagierten nicht.

Daniel Sandersson ist kein Mann großer Worte. Er sitzt auf einem Plastikhocker neben seinem Zelt und raucht eine Zigarette nach der anderen. „Ich weine nie“, sagt er. „Aber als das passiert ist, konnte ich nicht anders.“ Darwin Contreras, der Bruder von Pedro, sitzt auf einem Stuhl daneben und sagt, „mach dir keine Vorwürfe. Sie wussten doch alle, dass das Bergwerk unsicher war.“

Die Arbeiter, die in der Mine San José angestellt waren, verdienten durchschnittlich etwa 300 Euro im Monat mehr als in den anderen Bergwerken der Region. Es war eine Art Schmerzensgeld, weil die Betreiber der Mine auf viele Sicherheitsstandards verzichteten. Die einzelnen Stockwerke des Bergwerks soll nach den offiziellen chilenischen Minenregeln eine Gesteinsschicht von etwa 30 Metern trennen. In der Mine San José waren es gerade mal zehn Meter. Und jeden Tag drangen aus dem Bergwerk merkwürdige Geräusche, die Bergleute sagten dann, „die Mine singt“.

Javier Castillo, der Gewerkschaftsvertreter der chilenischen Bergarbeiter, nennt es üblich, dass sich in Bergwerken schmale Risse bilden. Aber nicht jeden Tag. Wegen der Sicherheitsprobleme setzte er vor drei Jahren durch, dass die Mine geschlossen wurde. Doch nur ein Jahr später war sie wieder geöffnet. „An den Sicherheitsstandards hatte sich nichts geändert“, sagt Castillo. Es war nicht die einzige unsichere Mine in der Gegend. Mittlerweile hat die Regierung mehr als 30 Bergwerke geschlossen.

Doch vergangene Fehler spielen jetzt keine Rolle, die Retter stehen im Vordergrund. Chile feierte vor einer Woche gerade den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien, der chilenische Präsident Sebastián Piñera hatte am Vortag mit den Bergleuten in 700 Meter Tiefe gesprochen, zusammen mit anderen Politikern und der Schriftstellerin Isabel Allende. Danach aß die Delegation mit den Angehörigen Empanadas und Choripan, die chilenischen Nationalgerichte, Brot mit Fleisch, Zwiebeln und Paprikawurst. Für die Familien der eingeschlossenen Kumpel verlief der Rest des Feiertages so einförmig wie jeder Tag.

Quälendes Warten, unterbrochen nur von den Fragen der Journalisten aus aller Welt und von den Briefen, die zwei Mal täglich in einer Plastikkapsel durch eine schmale Röhre rauschen, um zwölf Uhr mittags kommen die Briefe der Bergleute an der Oberfläche an, um fünf Uhr nachmittags werden die Antworten der Familien nach unten geschickt. Einmal in der Woche dürfen die Familien außerdem mit den Bergleuten telefonieren.

„Lasst es euch gut gehen, feiert die Unabhängigkeit, wie es sich gehört. Uns geht es gut“, haben Pedro und Carlos am 45. Tag des Unglücks geschrieben. Daniel Sandersson schüttet deshalb Kohle in ein Fass. Er und seine Cousins wollen ein Asado machen, ein Grillfest, so wie sie es in normalen Jahren am Unabhängigkeitstag auch gemacht hätten. Doch Daniel Sandersson ist nicht in Feierlaune. Mit starrem Blick verteilt er die Kohle, legt Zeitungspapier dazwischen, zündet es an.

Sein Cousin Pedro hat auch noch geschrieben: „Ich schicke euch morgen Schmutzwäsche nach oben, aber ich brauche nichts Neues. Wir sind ja bald wieder oben.“ Sandersson kann sich nicht richtig darüber freuen, dass sein Cousin so zuversichtlich ist.

„Die Tatsache, dass ich weiß, wie es in der Mine aussieht, macht das Warten nicht leichter“, sagt er und zündet sich wieder eine Zigarette an.

Dass das Bergwerk immer noch unsicher sei und die drei Bohrungen es noch instabiler machten, sagen auch die Techniker an der Mine.

Doch die Bergarbeiter unter Tage klammern sich an die Hoffnung, schon in wenigen Tagen wieder bei ihren Familien zu sein. Auch der Bergarbeiter Edison Peña hat seiner Frau Angelica Álvarez geschrieben, „bald ist es geschafft, meine Kleine“.

„Die Stimmung unter den Bergleuten ist sehr gut“, sagt der Psychologe Claudio Ibáñez. „Sie wachsen jeden Tag über sich hinaus, die Gruppendynamik funktioniert gut.“ Jeden Tag um 18 Uhr setzen sich die Minenarbeiter an einen langen Tisch im Schutzraum, um miteinander zu reden über alles, was an dem Tag passiert ist, wie sich jeder fühlt, über Reibereien. „Das war ihre eigene Idee, besser hätten sie es nicht machen können“, sagt er. „Sie brauchen uns eigentlich nur noch, um sich mit ihren Familien auszutauschen.“

Am Anfang haben die Psychologen alle Briefe gelesen, die die Familien unter Tage schickten. Viele behielten sie ein, weil darin von Problemen die Rede war, von Depressionen. Die Psychologen wollten die Stimmung der 33 Kumpel in keinem Fall trüben, sie hatten Angst davor, dass einer von ihnen die Situation nicht mehr aushalten, die Gruppe in Gefahr bringen könnte. Doch vor ein paar Wochen rebellierten die Familien, sie wollten die Zensur abschaffen. „Wir haben uns dem Willen der Familien gebeugt“, sagt Claudio Ibáñez. Jede Information kann jetzt aus dem Zeltlager Esperanza und aus der Außenwelt zu den Bergleuten gelangen.

Besteht nicht noch immer die Gefahr, dass die Geduld von einigen Kumpeln doch irgendwann am Ende sein könnte? Ibáñez macht eine abweisende Handbewegung. „Denen geht es gut.“ Und wenn die Rettungsarbeiten doch noch länger als zwei Wochen dauern? Der Psychologe sagt, die Bergarbeiter könnten theoretisch bis Weihnachten in der Mine bleiben. „Sie sind mit allem versorgt.“

Angelica Alvarez versucht am Tag nach der Unabhängigkeitsfeier ihre Sorgen um ihren Mann Edison Peña zu vergessen, ein bisschen zu feiern. Sie geht durch das Lager, ihre Tochter in einem Arm, in der anderen die Bibel, in der sie die 28 Briefe aufbewahrt, die ihr Mann ihr bisher geschickt hat. Bei manchen Familien bleibt sie stehen.

„Edison schreibt fast immer, dass er die Sonne sehen möchte, das Meer und die Wüste“, sagt Angelica Álvarez zur Mutter eines eingeschlossenen Bergarbeiters. „In zwei Wochen sind sie wahrscheinlich schon wieder bei uns“, antwortet die Mutter. Angelica Álvarez drückt ihre Tochter fest an sich.

Ihr Mann ist einer der wenigen Minenarbeiter, die nicht wussten, wie gefährlich das Bergwerk war. Er arbeitete erst seit kurzem unter Tage, eigentlich ist er Elektriker. Doch weil er schon seit Monaten keine Stelle fand und seine Frau in Copiapó arbeitete, suchte er Arbeit in den Bergwerken. Über einen Bekannten bekam er schließlich den Job in der Mine. Auch Angelica Álvarez fühlt sich schuldig.

„Er kann nie stillsitzen“, sagt sie zur Mutter des eingeschlossen Bergarbeiters. „Er wollte immer jede Minute des Tages ausnutzen. Er leidet sehr unter der Enge und dem Warten.“ Die Mutter antwortet: „Meinem Sohn geht es gut. Er freut sich, bald wieder draußen zu sein.“ Dann dreht sie sich um und wendet das Fleisch auf dem Rost, auch ihre Familie macht ein Asado. Negative Nachrichten will sie nicht hören.

Edison Peña ist einer der Männer, die das Psychologenteam zu Beginn als kritisch einstuften. Er fand sich am Anfang weniger gut zurecht mit der Situation als die anderen, zog sich zurück. Wenn sie unten ein Video für die Familien oben aufzeichneten, sprach er immer mit gedämpfter Stimme.

Am Nachmittag des 45. Tages nach dem Unglück fährt Angelica Álvarez zu einem stillgelegten Bergwerk, keine fünf Minuten von der Mine San José entfernt. Sie konnte nicht mit den anderen feiern und so tun, als wäre alles in Ordnung. Zum zweiten Mal kommt sie hierher. Entschlossen geht sie in den großen Eingang des Bergwerks. Nach etwa 500 Metern macht der Gang eine Rechtskurve, von da an ist es plötzlich stockdunkel. Angelica Álvarez bleibt stehen, atmet tief ein. Die Mine ist ihre Kathedrale. Hier, im Inneren des Berges, fühlt sie sich ihrem Mann ganz nahe, noch näher als am Bergwerk San José.

Am Abend sind zwei chilenische Folkloresänger zu den Angehörigen gekommen, die die Nächte im Lager verbringen. Sie wollen ein Lied vortragen, das sie für die 33 Bergarbeiter komponiert haben. Es handelt vom „Wunder in der Mine San José“, davon, dass die Minenarbeiter 17 Tage nach dem Einsturz der Mine noch lebten, davon, dass sie bald bei ihren Familien sein werden. Daniel Sandersson steht mit seiner Frau am Rand der Bühne und blickt zu den Sängern. Tränen laufen über sein Gesicht. Er weiß, dass das Wunder in der Mine San José noch nicht vollbracht ist.

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