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Der Künstler als junger Mann: Ein Selbstporträt Crumbs.

© Zeichnung: Robert Crumb/Reprodukt

Comiczeichner Robert Crumb: Der Menschenleser wird 75

Fritz the Cat, Mr. Natural: Sein Lebensthema ist die Tragödie des Individuums - auch wenn es viel um Sex und Drogen geht. Der Zeichner Robert Crumb wird 75.

Im Spätsommer 1990 zeichnet sich Robert Crumb in seinem Tagebuch als an die Wand geschlagenen Jesus Christus, zu dessen Füßen eine ekstatische Party steigt. „Hey, ich sterbe hier!“, brüllt der gekreuzigte Crumb. Doch keiner hört ihn. Das Selbstporträt ist typisch für den medienscheuen Zeichner, der als einer der wichtigsten Comicpioniere unserer Zeit gelten kann. Wenngleich seine oft sexuell aufgeladenen Geschichten über Mr. Natural, Fritz the Cat und Shuman the Human von einer ganzen Comicleser-Generation verschlungen wurden, nagte ständig der Selbstzweifel an ihm. Die zeichnerische Auseinandersetzung mit seinen Neurosen zieht sich durch sein Werk.

Robert Crumb wurde vor 75 Jahren, am 30. August 1943, in Philadelphia geboren. Als drittes von fünf Kindern wuchs er in der beklemmenden Atmosphäre der McCarthy-Ära auf. Um ihr zu entkommen, blieb nur die Flucht ins „Hippiedrom“, nach San Francisco. Dort begann am 25. Februar 1968 an der Ecke Haight/Ashbury Street seine einmalige Karriere. Aus einem Kinderwagen heraus verkaufte Crumb in abgetragener Kleidung die erste Nummer seines legendären Magazins „ZAP-Comix“.

Selbstzweifel und Ängste, Obsessionen und Gelüste

Das schnell begehrte Skandalblatt war Crumbs Antwort auf die Zensur des amerikanischen „comics code“. In der zeichnerischen Tradition von George Herriman, Walt Kelly und Harvey Kurtzman entwickelte der Zeichner darin ein Universum neurotischer Anti-Helden, deren Daseinsberechtigung in der Sinnsuche bestand. Françoise Mouly, Artdirektorin des „New Yorker“ und Ehefrau von Art Spiegelman, bezeichnete die „ZAP-Comix“ als „Handbücher der Hippie-Haltung“. Mit Sex, Drogen und Jazz verzauberte Crumb die Blumenkinder, die seine Comics auf der Suche nach sich selbst verschlangen.

Klassiker. Crumb auf dem Titel seines Buches „Mein Ärger mit den Frauen“.
Klassiker. Crumb auf dem Titel seines Buches „Mein Ärger mit den Frauen“.

© Reprodukt

Es folgte der große Seelenstriptease. Zeichnend verortete Crumb immer wieder seine Selbstzweifel und Ängste, Obsessionen und Gelüste. „Kontraintuitiv“ kartografierte er die eigenen Gemütszustände: Harmlose Bilder illustrieren derbe Dialoge und umgedreht. Mit diesen augenzwinkernden Selbstreflektionen revolutionierte Crumb die Neunte Kunst und ebnete Comiczeichnern wie Art Spiegelman, Chris Ware oder Alison Bechdel den Weg zu ihren autobiografischen Geständnissen.

Leidenschaft für voluminöse Matronen

Als „Mr. Hyper-Sensitive“ brachte Crumb die Diskrepanz der Wirklichkeit aufs Papier. Neben seinen politisch unkorrekten und immer wieder heftig kritisierten Selbstreflektionen, in denen er genüsslich seine Leidenschaft für voluminöse Matronen exerzierte, stehen seine sensiblen Porträts von schwarzen Musikern, weggesperrten Geisteskranken und jüdischen Persönlichkeiten.

All jenen, die ihm Chauvinismus, Pornografie und Rassismus vorwarfen, entgegnete er: „All dieser Quatsch ist doch tief in unserer Kultur und unserem Kollektivgedächtnis verwurzelt, und nun muss man damit umgehen.“ Den „feministischen Frauen“ brüllte er in einem Cartoon entgegen: „Ich werde zeichnen, was ich verdammt noch mal zeichnen möchte, und wenn euch das nicht gefällt, dann fickt euch!“

Heute würde Crumb mit solchen Aussagen wohl in einem #Aufschrei gnadenlos untergehen. Andererseits wären die sexuell konnotierten Werke von Chester Brown oder Joe Matt ohne Crumbs Selbstentäußerung nicht denkbar.

In den 90er Jahren zieht Crumb nach Frankreich. Seine Kritiker verstummen, die Ehrungen häufen sich. Allein zwischen 1989 und 1997 bekommt er fünf Harvey- und einen Eisner-Award. 1999 wird er im französischen Angoulême für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein Œuvre, in dem Kooperationen mit Janis Joplin, Harvey Pekar, Charles Bukowski oder Edward Abbey zur Nebensache herabsinken.

Mit seiner 2009 erschienenen Bibel-Adaption „Genesis“, für die er die ersten 50 Kapitel des Alten Testaments illustrierte, entfacht der Zeichner noch einmal enormes Aufsehen. Crumb legt schonungslos die inhärente Gewalt und Grausamkeit der Bibel frei, was ihm die scharfe Kritik von christlichen Lesern einbrachte. Crumb entgegnete: Dieses „primitive Dokument“ beweise, „wie verrückt und irrsinnig die Menschheit bis zum heutigen Tag sei, wenn sie sich auf einen solchen Text als Quelle moralischer Orientierung“ stütze.

Crumb hat ein großes, episch ausgreifendes und psychoanalytisch tief lotendes Werk geschaffen. Sein Lebensthema war die Tragödie des Individuums. Die genaue Beobachtung des menschlichen Verhaltens brachte ihm den Titel „Brueghel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ ein. In den vergangenen Jahren wurden im Berliner Reprodukt-Verlag einige seiner Klassiker neu aufgelegt. Es ist eine überfällige Notwendigkeit, dass das gigantische Werk dieses akribischen Menschenlesers wieder publiziert wird.

Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde 2013 zum ersten Mal auf den Tagesspiegel-Comicseiten veröffentlicht und nun aus aktuellem Anlass leicht überarbeitet.

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