zum Hauptinhalt

Panorama: Das Jahr der Schlange: Mit dem Zug nach Hangzhou

"Willkommen im Jahr der Schlange!", brüllt die Megaphonstimme aus dem Pekinger Hauptbahnhof.

"Willkommen im Jahr der Schlange!", brüllt die Megaphonstimme aus dem Pekinger Hauptbahnhof. Der Platz vor dem stalinistischen Prachtbau ist mit Menschen überfüllt. Junge Familien mit Kind schleppen ihre Koffer über den Schnee. Wanderarbeiter und Bauern aus der Provinz campieren in ihren Sonntagsanzügen zwischen Kleiderbündeln auf dem Boden. Vor einem Ticketschalter, um den sich dicke Menschentrauben ranken, ist ein Polizist in ein Handgemenge mit Schwarzhändlern verwickelt. Es ist die Zeit des "Chun Jie", des chinesischen Frühlingsfestes.

Seit Mittwoch feiern die Chinesen den traditionellen Beginn des neuen Jahres. Für Millionen von Wanderarbeitern sind die Feiertage die einzige Gelegenheit im Jahr, ihre Familien in den Provinzen zu besuchen. In den Fabriken in Kanton, den Baustellen in Peking und Schanghai packen sie ihre Bündel, um in tagelangen Zug- und Busreisen in ihre Dörfer und Heimatstädte zu gelangen. 134 Millionen Chinesen sind in diesen Tagen mit Zügen unterwegs, 7,3 Millionen mit dem Flugzeug. Dutzende Millionen reisen mit Langstreckenbussen. Eine Völkerwanderung quer durch das Reich der Mitte.

Für zwei Wochen ist China im Ausnahmezustand. In Firmen und Behörden werden schon seit Anfang des Jahres alle wichtigen Entscheidungen auf die Zeit nach dem Frühlingsfest verschoben. Stattdessen machen sich die Angestellten Gedanken, wie man dieses Jahr wohl an die begehrten Tickets kommen könnte. Familie Chen hatte Glück und für die Fahrt nach Hangzhou noch Sitzplatzkarten ergattert. "Wir mussten einen halben Tag anstehen", sagt Frau Chen. Bauarbeiter Zhou erwischte für seine 20-stündige Fahrt nach Anhui nur einen Stehplatz. Wird er auf dem Boden schlafen können? "Nein, dafür ist es im Zug zu eng", erklärt Zhou. Er arbeitet mit seinen beiden Dorfnachbarn Wang und Li auf einer Pekinger Großbaustelle. Jetzt fahren sie zum ersten Mal seit einem Jahr wieder zu ihren Frauen und Kindern nach Anhui. Einen Monat wollen sie bleiben. In Reissäcke aus Plastik haben sie Geschenke für die Familien eingepackt - Kleider, Schuhe, Spielsachen. Haben sie Heimweh? "Ein bisschen", sagt Zhou. "Die Frauen sagen jedes Mal, dass wir nicht mehr weggehen und im Dorf bleiben sollen. Aber wie soll das gehen? Wir müssen doch Geld verdienen."

Am Eingang zum Bahnhof werden Taschen und Gepäck mit Röntgengeräten durchleuchtet und von Beamten durchsucht. Es geht nicht um Waffen, sondern um Feuerwerkskörper. Jedes Jahr explodieren ganze Waggons, weil Reisende illegal Silvesterknaller und Leuchtraketen mit in die Züge nehmen. Zugtickets sind in China immer schwierig zu kaufen, vor dem Frühlingsfest ist es praktisch unmöglich. Obwohl die meisten Züge als "ausverkauft" markiert sind, drängen sich vor den Ticketschaltern im Hauptbahnhof bis in die späte Nacht lange Schlangen. Plötzlich taucht ein Mann in einer grünen Cordjacke auf. "Wohin? Nach Hangzhou?", flüstert er. Eilig führt er uns in einen kleinen Lebensmittelladen außerhalb des Bahnhofs und zieht einen Liegewagenfahrschein aus dem Ärmel. 800 Yuan, rund 200 Mark, will er dafür haben. Der Originalpreis ist die Hälfte.

Wie jedes Jahr hat Pekings Regierung angekündigt, den Neujahrsreiseverkehr diesmal besser zu organisieren. Um die Nachfrage zu drücken, erhöhte die chinesische Bahn über die Feiertage die Zugpreise um bis zu 40 Prozent. Im Kampf gegen Schwarzhändler wurde im Pekinger Bahnhof jeder, der privat ein Ticket zum Verkauf anbot, "vorläufig festgenommen", berichtet die "Morgenzeitung". Geholfen hat das kaum etwas. Eine Woche vor den Feiertagen war alles ausverkauft und Millionen Chinesen hatten immer noch keine Tickets.

Der Zug nach Hangzhou setzt sich trotzdem in Bewegung. Die Waggons der dritten Klasse sind bis zum Bersten gefüllt, die Luft ist stickig und heiß. Vor den Toiletten, vor den Ausgängen und in den Gängen stehen die Reisenden dicht an dicht. Die Gepäckstangen biegen sich unter dem Gewicht der Koffer, Kartons und Reissäcke. Aus den Lautsprechern ertönt ein Militärmarsch. Familie Chen, den siebenjährigen Sohn auf dem Schoß, kauert auf einer schmalen Sitzbank. 16 Stunden wird die Fahrt nach Hangzhou dauern, und sie werden wohl kaum viel Schlaf finden. "Die Zugfahrt ist nicht so schlimm", sagt Frau Chen tapfer. In Hangzhou würden sie in einen Bus umsteigen und noch mal sechs bis acht Stunden in ihr Dorf unterwegs sein. "Das ist dann schon anstrengend", sagt Frau Chen.

Harald Maass

Zur Startseite