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Seit April wird der Fall Breivik verhandelt. Der Angeklagte ist geständig, aber kann er auch verurteilt werden?

© dpa

Der Fall Anders Breivik: Prozess der Psychiater

Schuldfähig oder nicht? Das ist die große Frage im Fall Anders Breivik. Seit zwei Monaten läuft das Gerichtsverfahren, und es wird immer mehr zu einem zähen Kampf der Gutachter.

Er grinst jetzt ziemlich häufig. Manchmal lacht er sogar stumm, und seine Schultern wackeln im schwarzen Anzug. Oft trinkt er dann schnell einen Schluck Wasser. Es wirkt, als könne er sein Lächeln abwaschen. Wenn er den weißen Plastikbecher absetzt, ist er wieder ernst und unbewegt.

Aus schmalen Augen schaut Anders Behring Breivik in den voll besetzten Saal des Osloer Bezirksgerichts. Er fixiert jene, die dort im Zeugenstand stehen. Es sind Experten, forensische Psychiater.

Es ist nun die Zeit, in der das Gericht in Anders Breiviks Innerstes blicken will. Er macht sich Notizen, leicht aber macht er es ihnen nicht.

Wahnsinn macht unverwundbar, heißt es. Ist Breivik wahnsinnig? Vor allem: War er es am Nachmittag des 22. Juli 2011, als er in Oslos Innenstadt eine Bombe zündete, auf der Insel Utøya Jugendliche erschoss? 77 Menschen starben an diesem Nachmittag, was Breivik noch immer recht enttäuschend findet, er hatte auf mehr gehofft.

Er besteht darauf: Seine Taten waren ein politischer Akt, ein verzweifelter Versuch, Norwegen zu retten vor Islamisierung und Multikulturalismus. Mitte der Woche meldet er sich zu Wort. Er wirft den Experten Inkompetenz vor und dass sie sich nicht ausreichend auskennen mit der Psyche eines Terroristen.

Ist er das, ein rechtsextremer Terrorist, größenwahnsinnig vielleicht, narzisstisch, gefährlich – doch geisteskrank, das nicht?

Zwei Gutachten hat das Gericht anfertigen lassen, beide kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. Die Psychiater Synne Sørheim und Torgeir Husby waren die ersten, die mit Breivik sprachen. 13-mal trafen sie den Angeklagten im Gefängnis in Ila, mehr als 35 Stunden dauerten ihre Gespräche. Vor Gericht erzählen sie, dass er gern mit ihnen gesprochen habe. Breivik lächelt.

Sørheim und Husby glauben, dass er paranoid ist und schizophren und deswegen schuldunfähig. Ginge es nach ihnen, dann käme Breivik nicht in ein Gefängnis, sondern in die Psychiatrie.

Als sie ihr Ergebnis im November des vergangenen Jahres vorstellten, war die norwegische Öffentlichkeit entrüstet. Sie wünschte eine Strafe für den Massenmörder – keine Therapie.

Die Psychiater Agnar Aspass und Terje Tørrisen waren dann die nächsten, die mit Breivik sprachen. Auch sie redeten mehr als 35 Stunden mit ihm, da wusste er schon vom Ergebnis des ersten Berichts. Auch er war entrüstet.

Aspass und Tørrisen glauben, dass Breivik nicht schizophren ist und auch nicht psychotisch. Er hört keine Stimmen, er halluziniert nicht. Dass er größenwahnsinnig ist und narzisstisch, dass er schwere Persönlichkeitsstörungen hat, das meinen sie wohl. Doch frei von Schuldfähigkeit spreche ihn das nicht.

Die vier Gutachter sind nicht die einzigen, deren Meinung zählt. Vor Gericht erscheinen auch Vertreter derer, die den Angeklagten rund um die Uhr in Untersuchungshaft bewacht hatten. Das sind noch einmal 18 Psychiater und Psychologen. Von denen glauben immerhin 16 Aspass und Tørrisen.

Der Prozess um Anders Behring Breivik ist jetzt ein Prozess der Psychiater. In diesem gibt es viele Wahrheiten mit unterschiedlichen Begründungen, doch nur eine soll es sein.

Schleppend manövriert das Osloer Gericht durch die Grauzonen der Diagnostik. Der Prozess soll in dieser Woche enden, das Urteil Wochen später fallen. Das Gesetz verlangt klare Antworten, die Psychiatrie kann und will so eindeutig nicht sein.

Breiviks Ideen von einem ethnisch bereinigten Volk, von der Deportation aller Muslime, sind absurd. Der Erste mit solchen Gedanken ist er nicht. Ideologie und Psychologie – das Osloer Gericht sucht zu trennen, was miteinander verschmilzt.

Der Fall entwickelt sich zum Wettstreit der Experten

Überall in Europa sehe er Brüder und Schwestern, die dächten wie er, hatte Breivik am zweiten Tag des Prozesses erklärt, im April. Sie seien die „Fußsoldaten der Revolution“, er habe nur den Anfang gemacht. Er beruft sich auf ein Netzwerk, von dem kaum ein Experte glaubt, dass es irgendwo existiert – außer in seinem Kopf.

„Die ganze Person“, sagt Karl Henrik Melle, „ist ein einziger Tatort.“ Melle ist Leiter der rechtsmedizinischen Kommission, die die Qualität der Gutachten überprüfen sollte. Die Kommission hat beide Gutachten für professionell befunden, trotz Kritik an der Methodik. Die vier Psychiater nennt Melle vor Gericht „Team eins“ und „Team zwei“, was sich sportlich anhört und ein bisschen unpassend. Doch der Fall Breivik hat längst einen Wettstreit unter Experten ausgelöst, nicht nur in Norwegen, sondern überall.

Breivik sei einzigartig, sagt Melle. Niemand habe jemanden wie ihn zuvor je getroffen. Melle sagt auch: „Vielleicht kann unser diagnostisches System ihn nicht erfassen.“

Neben ihm liegt ein dickes grünes Buch. Es ist die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, kurz ICD-10 genannt. Alles Mögliche ist darin aufgelistet, für Anders Breivik könnte sich die Lösung in Kapitel V finden, Psychische Störungen und Verhaltensstörungen. Breivik könnte unter F20 fallen, die paranoide Schizophrenie, was vor allem „Team eins“ glaubt. Jemand aus der Kommission vermutete, er könne auch eine autistische Störung haben. Alles möglich, alles Auslegungssache. Je mehr gesagt wird vor Gericht, desto weniger scheint klar.

Sicher ist: Der Mann im dunklen Anzug, mit dem feisten Gesicht und den gegelten Haaren, 33 Jahre alt, hat vor einem Jahr innerhalb weniger Stunden 77 Menschen umgebracht – und er hat es gestanden.

Ein Massenmord ist die gezielte Tötung von vier oder mehr Personen an gleicher Stelle während relativ kurzer Zeit. So steht es in einem Artikel der Psychologen Peder und Nicolay Nørbech und Inge-Arne Teigset.

Teigset ist hellblond und trägt eine Brille. Auf einem Foto, das die norwegische Zeitung „Dagsavisen“ kürzlich von ihm veröffentlichte, steht er mit vor der Brust verschränkten Armen und schaut grimmig. Am Telefon aber klingt er sanft und nett. Seitdem sie im vergangenen Herbst diesen Artikel zur Psychologie eines Massenmörders publiziert haben, wird der Osloer Psychologe häufig im wirren Fall Breivik um Rat gebeten. Acht Wochen dauert der Prozess und der Versuch zu verstehen ist noch nicht aufgegeben.

In den Zeilen des Artikels tauchen Stichworte auf, die auch im Osloer Gerichtssaal immer wieder fallen. Von Wahnvorstellungen ist die Rede, einem langen und intensiven Interesse an Waffen, an Kriegen und Konflikten, von Paranoia und Narzissmus. „Zu großen Teilen ist Breivik der typische Massenmörder“, sagt Teigset. „Denn es gibt einiges in seiner Biographie, das typisch erscheint.“

Da wäre zum Beispiel das Verhältnis zum Vater, der die Familie verließ, als Anders Breivik noch ein Kleinkind war. „Die meisten Massenmörder haben das Gefühl erlebt, verlassen zu werden“, sagt Teigset. Das zieht Fragen nach sich. Vor allem die: Was bin ich wert? Breiviks Vater verließ den Sohn gleich zwei Mal. Nachdem sie jahrelang zumindest Kontakt hatten, wurde Breivik als jugendlicher Graffiti-Sprayer straffällig. Da zog sich der Vater völlig zurück. Dieses zweite Verlassenwerden, glaubt Teigset, sei der Wendepunkt in Breiviks Leben gewesen, auch wenn der selber das wohl gar nicht realisiere.

Nicht wenige Massenmörder, schreiben Teigset und Kollegen in ihrem Artikel, seien zum Zeitpunkt der Tat Jugendliche. So wie die Amokläufer der Columbine-Highschool zum Beispiel.

Untypisch für Breivik – 33 Jahre alt, zur Tatzeit 32 – sei denn auch, dass er die Anschläge so lange geplant und damit gewartet habe. Man kann vermuten und analysieren, aber auch Inge-Arne Teigset glaubt: „Es gibt Grenzen, solche Menschen zu verstehen.“ Und trotzdem muss so einer in diesem Fall in die Grenzen einer Gerichtsbarkeit passen. Weil die Überlebenden und die Familien der Angehörigen wünschen, dass Gerechtigkeit geschieht.

Als der Prozess im April begann, da stand er auch für die Tapferkeit der Norweger. Wochen später sitzen noch immer viele der Betroffenen im Gerichtssaal, noch immer tapfer. Doch nun, da es um die entscheidende Frage geht, ob Breivik zurechnungsfähig ins Gefängnis muss oder geisteskrank in eine Psychiatrie, zerfasert die Diskussion.

Was geschah an jenem Tag in seinem Kopf?

Karl Henrik Melle im Zeugenstand versucht zu erklären, sich selbst und die Logik des Systems. Ist jemand psychotisch und zum Zeitpunkt seiner Tat nicht mehr in der Lage, die Realität zu erkennen und beurteilen, so gilt er auch vor Gericht als krank. Ist er aber psychotisch und war zum Zeitpunkt sehr wohl in der Lage, zwischen real und nicht-real zu unterscheiden, so kann er als schuldfähig verurteilt werden. Was in Breiviks Kopf am 22. Juli 2011 geschah, das sollten die Psychiater-Teams rückblickend ermitteln.

Breivik trinkt. Sein Anwalt Geir Lippestad kaut auf seinem Brillenbügel.

Die Psychiater Sørheim und Husby haben Breiviks Mutter interviewt. Sie verlesen, dass die Mutter Angst vor ihrem Sohn bekam, der vom Jahr 2006 an, als er wieder bei ihr einzog, immer merkwürdiger wurde; dass er zu Hause mit einem Mundschutz herumlief und ihr verbot zu niesen; dass er wirre politische Theorien spann und zum Erstaunen der Mutter selbst daran glaubte.

Er kenne niemanden, der perfekter sei als er, hatte Breivik Sørheim und Husby gesagt. Er sei der Retter Norwegens, habe seinem Land einen Gefallen getan. All dies, sagt Melle, zeige offensichtlich Breiviks Realitätsverlust, seinen Größenwahn. Trotzdem meint der Psychiater, dass die rechtsextremen Ideen des Angeklagten von den begutachtenden Kollegen missverstanden wurden. Die deuteten sie als Anzeichen einer Psychose. Melle aber glaubt daran nicht notwendigerweise.

„Schauen Sie doch mal, wie unsere Gesellschaft Menschen behandelt, die extreme Meinungen vertreten“, sagt er zur Staatsanwältin. Sich ausgeschlossen und beobachtet zu fühlen kann demnach Paranoia sein. Muss es aber nicht. Es ist still im Gericht.

„Ich musste Gewalt anwenden, weil ich anders nicht gehört werden konnte.“ Das hat Anders Breivik gesagt, damals im April. Ein Satz wie ein Steinschlag.

Er ändert nichts an den Zweifeln, die über Breiviks Gesundheit bestehen – er fügt nur weitere, andere hinzu.

„Die norwegische Gesellschaft ist sehr aufs ‚Wir’ bezogen“, sagt Eystein Victor Våpenstad und meint damit Zusammenhalt, den offiziellen Wunsch, alle mit einzubeziehen, egal, woher sie kommen. Doch denken wirklich alle so?

Våpenstad, ein großer freundlicher Mann mit Schiebermütze, hat sich Zeit genommen an einem Abend zwischen zwei Gerichtstagen, in denen Recht und Psychiatrie eifrig aneinander vorbeireden. Våpenstad ist 43 Jahre alt, Psychologe und Psychoanalytiker, seine Patienten sind Kinder, und er meint, wenn eine Gesellschaft auf etwas besonders achtgeben sollte, dann seien es die Kinder. Die Umgebung des Kindes Anders Breivik, vermutet er nach allem, was bekannt ist, sei kein Zuhause gewesen, sondern ein Minenfeld, das sorglos nicht zu durchschreiten war. Ein Psychologe empfahl damals, für das schon auffällige Kleinkind Anders eine Pflegefamilie zu finden.

Keine Erklärung für Massenmord, nur ein Puzzlestück im Psychogramm.

Eystein Victor Våpenstad hat sich aus der Diskussion der Fachleute in Norwegen herausgehalten. Was sollen die Ferndiagnosen? Das Land ist des Themas langsam überdrüssig. Aber auch er sitzt manchmal als Experte in einem Gericht, das Fälle der Kinderfürsorge verhandelt. Er weiß, wie sehr sich die Richter auf Gutachter verlassen – verlassen müssen. Er sagt: „Dieses Rechtssystem ist nicht gemacht für Fälle wie Breivik.“

Er meint jemanden, der sich bewaffnet hat gegen seine eigene Menschlichkeit; der dieses norwegische „Wir“ nicht leiden mochte, der darin eine Gefahr sah – für sein Land und ganz Europa. Jemand, dessen brutales Handeln und Denken trotz geballter Expertenmühe nie völlig zu verstehen sein wird. Våpenstad glaubt, dass es trotzdem einen Versuch wert ist. Dass die Gesellschaft sich mit Breivik auseinandersetzen muss. Nicht nur, damit so etwas Schreckliches nicht wieder passieren kann, sondern auch, um es zu verarbeiten.

Egal, wie das Urteil des Gerichts ausfällt.

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