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Fassungslos sehen Badegäste am Strand von Eastbourne, wie das Pier abbrennt.

© Reuters

Der Pier von Eastbourne: Die Seebrücke soll wieder aufgebaut werden

Seebrücken sind seit den Zeiten von Königin Victoria Freizeitzentren für die englische Arbeiterklasse. Wehmut befällt viele Engländer, wenn ein Pier mal wieder brennt. Der Pier von Eastbourne soll wieder aufgebaut werden.

Nicht nur die Urlauber und Strandflaneure vor Ort, halb England verfolgte den dramatischen Brand des Vergnügungspiers von Eastbourne. Per Live-TV und Twitter gingen die Bilder um die Welt: Schwarze Rauchschwaden über der grauen See, Feuerstürme, die in den blauen Himmel loderten, noch in der Nacht glühende Balken und dann im Morgengrauen das ausgebrannte Skelett des Vergnügungspavillons auf der Seebrücke.

„Es reißt mir das Herz heraus“, sagt ein Anwohner in die Kameras , „ich bin oft auf das Pier gegangen, als ich noch jünger war.“ Hotelmanager Sian Ellis sagte: „Das Eastbourne-Pier ist nur noch eine rote geschmolzene Masse aus Flammen und Rauch!“ Die BBC-Journalistin Sarah Bell, die aus Eastbourne stammt und auf der alten Seebrücke ihren ersten Kuss erlebte, erinnerte sich nostalgisch an ihre Jugend. „Die Strände links und rechts des Piers waren für die coolsten Kids reserviert.“

Aber als der „Daily Express“ gestern titelte: „Grauenhafter Brand zerstört 144 Jahre Geschichte“, war es doch eine kleine Übertreibung. Einmal, weil die viktorianische Seebrücke von Eastbourne schon 1872, sechs Jahre nach dem Bau, von einem Sturm in die See gespült wurde und es 1936 und 1970 Brände gab, die große Teile zerstörten. Zum anderen, weil der Stadtrat und die Feuerwehr am Mittwochmorgen erleichtert verkünden konnten: „Wir haben zwei Drittel der Seebrücke gerettet.“ Keine Frage, dass der wegen eines elektrischen Schadens zerstörte Pavillon auch diesmal wieder aufgebaut wird.

Konnten das Gebäude nicht retten. Feuerwehrleute auf dem Pier.
Konnten das Gebäude nicht retten. Feuerwehrleute auf dem Pier.

© REUTERS

Abgebrannt sind der Eingangspavillon mit Coffeeshop und Seafood-Bar und die große „Funtasia Arcade“, wo an guten Tagen die „einarmigen Banditen“ lärmten und die Teenager vor großen Computerkonsolen wilde Rennen simulierten. Der eigentliche Vergnügungstempel an der Spitze der 350-Meter-Brücke, mit Aussichtsterrasse, „Camera Obscura“, der großspurig „Atlantis Nightclub“ genannten Disco und der „Ocean Suite“ mit 360 Grad Seeblick, ist heil geblieben – er ist nur eben fürs Erste unzugänglich. Helen Brook und der IT-Techniker Stuart Pearce, die dort im August ihre 13 000-EuroHochzeit feiern wollten, müssen sich nach einem Ersatzlokal umschauen.

Die Seebäder sind eine Tradition des victorianischen Englands

„Leisure Piers“, wie diese langen Seebrücken aus Holz oder Eisenstahl heißen, sind ein Stück viktorianischer Kultur, an dem die Engländer mit Wehmut festhalten – vielleicht gerade wegen ihrer Anfälligkeit für Feuer und Sturm, Schimmel und Fäulnis, oder einfach nur wegen des Verfalls durch Vernachlässigung und mangelnde Nutzung. Pier-Brände haben fast so viel Tradition wie die Piers selbst. Von einem der schönsten, dem Brighton West Pier, steht nach einem Brand 2003 nur noch das Skelett des abgebrannten Pavillons wie eine Insel in der See. Das Hastings Pier brannte 2008 und dann wieder 2010, seit 2013 gehört es als „Bürgeraktiengesellschaft“ den Stadtbewohnern und soll wieder aufgebaut werden – wie das „Grand Pier“ von Weston-Super-Mare, das nach einem verheerenden Brand 2008 drei Jahre später schon wieder eröffnet wurde. Englands „Seaside Resorts“ oder Strandbäder waren einst das Zentrum des Vergnügungslebens und Big Business dazu. All diejenigen, die heute an die Adria oder Costa del Sol oder gar in exotische Südsee-Paradiese fliegen, fuhren im 19. Jahrhundert an die englischen Küsten, die neue Eisenbahn machte es möglich. Wer nicht das Geld für einen Aufenthalt in einem teuren Badehotel hatte, sparte für einen Tagesausflug mit den Kindern. Hüpfen in den Wellen, Zuckerwatte oder die „Brighton Rock“ genannten Lutschstangen, Kirmes und Spielautomaten – die „Seaside“ war der Beginn der modernen Freizeitkultur und spiegelt auch das moralische Auf und Ab ihres wichtigsten Trägers, der Arbeiterklasse. 1930 wurden die „saucy postcards“ eine Riesenmode, mit ihren anzüglichen Witzen um Pfarrer und gehörnte Ehemänner.

Warum brennen diese Seebrücken so oft? „Schlecht regulierte Ad-hoc-Konstruktion und die schlechte Zugänglichkeit für die Feuerwehr“ nannte Brandexperte John Ivison dem „Daily Telegraph“ als Gründe. Sie werden vom Blitz getroffen, Zündler finden sie attraktiv und wenn es für die Löschtrupps schwer ist, heranzukommen, haben es die Seewinde umso leichter, die Flammen anzufachen. 43 Seebrücken sind verloren, zählt Englands „National Piers Society“ auf, die sich um Pflege und Erhalt kümmert. Immerhin sind 58 noch funktionstüchtig – und erfreuen sich wieder wachsender Beliebtheit.

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