zum Hauptinhalt
Hanau am Freitag: Polizisten an einem der Tatorte.

© Nicolas Armer/dpa

Update

„Deutschland macht uns wieder Angst“: So blickt die internationale Presse auf Hanau

Der Anschlag von Hanau wird auch international mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Überblick.

Die italienische Zeitung „Corriere della Sera“ schreibt über eine Aufstachelung zur Gewalt, die Früchte trägt

„Das Massaker von Hanau ist ein weiterer rassistischer Terrorakt gegen ethnische oder religiöse Minderheiten, der in einem deutschen Bundesland verübt wird. Zu lange unterschätzt, zeigt das weite Spektrum der neonazistischen Ultrarechten so, dass diese eine diffuse Erzählung von Hass, Fremdenfeindlichkeit und Aufstachelung zur Gewalt geschaffen haben, die Früchte trägt und die Gruppen oder Einzelpersonen dazu bringt, blutige kriminelle Pläne wahr zu machen.“

Die italienische Zeitung „La Repubblica“ bemerkt eine neue Angst vor Deutschland

„Das Monster wacht auf, und Deutschland macht uns wieder Angst. Es macht uns noch mehr Angst, denn es sieht uns ähnlich. Seine soziale Krankheit ist unsere. [...] Die Anbindung an die Europäische Union, und damit an eine übernationale Struktur, die jede Bestrebung des wiedervereinigten Deutschlands in Richtung Großmacht abwenden sollte, schürt das Wiederaufleben eines aggressiven Nationalismus in einer zerrissenen Gesellschaft, die sich in ihrem Wohlergehen bedroht fühlt.

Genau davor hatte Angela Merkel Angst, als sie das Zusammenwirken ihrer Partei, der CDU, und der Liberalen in Thüringen mit den anti-europäischen Fremdenhassern der Alternative für Deutschland als „unverzeihlich“ bezeichnete. Aber der von der Bundeskanzlerin erwirkte Widerruf der Kooperation hat Teile der deutschen Christdemokraten nicht daran gehindert, weiter der Versuchung zum Dialog mit der extremen Rechten zu erliegen, wie es bereits in Italien und Österreich geschehen ist.

Deutschland steht heute bestürzt vor dem Massaker in den Shisha-Bars von Hanau. Und hoffen wir, dass es nicht zu spät ist.“

Die Londoner „Times“ sieht Versäumnisse in Deutschlands Sicherheitsapparat

„Das deutsche Innenministerium schätzt, dass es im Land jetzt 12.700 Rechtsextremisten mit einer Neigung zur Gewalt gibt. Das allein wäre schon eine große Herausforderung. Aber zwei Faktoren machen die Sache noch schwieriger. Der erste ist, dass verschiedene Stränge der extremen Rechten sich anscheinend im Internet kreuzen und dass Einzelgänger leicht Zugang zu einem Arsenal an Kontakten, Anleitungen für Waffen und rassistischen Doktrinen finden.

Der zweite besteht darin, dass Deutschlands Sicherheitsapparat viele Jahre lang darauf ausgerichtet wurde, sich auf die vom islamistischen Terrorismus ausgehende Bedrohung zu konzentrieren. Kritiker argumentieren, dass er lange Zeit zu selbstgefällig – oder gar vorsätzlich blind – auf das Aufkommen einer flexiblen, heterogenen und internationalisierten extremen Rechten reagierte und es daher versäumte, angemessene Ressourcen für deren Überwachung bereitzustellen.“

Der Londoner „Guardian“ spricht von einem „Sperrgürtel zur Isolierung der AfD“

„Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit besteht darin, inwieweit das Ausmaß der Wiederauferstehung des Nationalismus den Rechtsextremismus und tödlichen Rassenhass angefacht und legitimiert hat. Die Sache ist kompliziert. In gewisser Weise ähnlich wie [die rechtspopulistische britische Partei, Anm. d. Red.] Ukip hatte die AfD als eine vor allem euroskeptische Partei begonnen. Doch seit der Migrationskrise von 2015 hat sie sich in eine breitere Bewegung mit starken Elementen verwandelt, die bewusst Islamophobie und Rassismus schüren. [...]

Angela Merkels bevorstehender Abschied von der Bühne bedeutet, dass eine Periode politischer Turbulenzen unvermeidlich ist. Doch während die erfolgreichste Partei der Nachkriegsära in Deutschland über ihre künftige politische Richtung nachdenkt, sollten die Ereignisse von Hanau all jenen stark zu denken geben, die versuchen möchten, die äußerste Rechte zu zähmen, einzubinden oder zu imitieren. Der Sperrgürtel zur Isolierung der AfD und ihresgleichen muss aufrechterhalten werden.“

Die konservative polnische Zeitung „Rzeczpospolita“ reflektiert über rassistischen Terror

„Wenn jemand willkürlich auf Menschen schießt, die spät abends eine Kneipe besuchen, dann muss das kein Terrorismus sein. Aber in Hanau war es anders. Denn wenn der Schütze in sozialen Medien schreibt, dass er Fremde hasst und über die Liquidierung schlechterer Nationen spekuliert, dann ist er ein Terrorist. Ein rassistischer, rechtsextremer, flüchtlingsfeindlicher und vermutlich auch [...] nationalistischer Terrorist.

Das wird vielen bestimmt nicht gefallen, da sie den Terrorismus auf islamistische Fundamentalisten beschränken wollen. Wie viel einfacher wäre die westliche Welt, wenn alle Terroristen beim Attentat „Allahu akbar!“ rufen würden. Aber im Verlauf des letzten Jahres haben im weitergefassten Westen diejenigen Anschläge verübt, die Muslime und andere „Nicht-Weiße“ hassen.

Erst tötet in Christchurch ein Attentäter betende Muslime. Dann wurden in Halle eine Synagoge und ein Kebap-Imbiss zu Zielen. Und nun in Hanau – zwei Shisha-Bars. Das ist die Mitte Europas. Die Mitte Deutschlands, in dem ein von Rassenhass ausgelöster Terrorismus besonderes Entsetzen auslöst.“

Die Moskauer Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“ erinnert an eine wachsende rechtsextreme Haltung in Deutschland

„Ganz Deutschland ist schockiert über die Tragödie in der Stadt Hanau mit ihren 100.000 Einwohnern in der Nähe der deutschen „Wirtschaftshauptstadt“ Frankfurt am Main. Ein Bewohner, der 43-jährige Tobias R., verübte dort einen Anschlag auf zwei Shisha-Bars, bei dem neun Menschen getötet und fünf weitere schwer verletzt wurden – um deren Leben die Ärzte weiter kämpfen. (...) In Deutschland wird schon lange über eine wachsende rechtsextreme Haltung gesprochen, auch unter Polizisten und Soldaten.“

Die liberale Zeitung „Hospodarske noviny“ aus Tschechien ist schockiert über eine „nicht enden wollende Serie“

„Die Schüsse von Hanau haben uns schockiert. Zehn Menschen, die der Mörder nach allem, was wir wissen, nur wegen ihrer Herkunft angriff, sind tot. Der Anschlag reiht sich ein in eine Serie von Attacken, wie den Angriff auf die Synagoge in Halle am jüdischen Feiertag Jom Kippur und das Attentat auf den Politiker Walter Lübcke, der wegen seines Engagements für Flüchtlinge zum Ziel wurde. Jeden einzelnen Angriff könnte man als die Tat eines vereinsamten Einzeltäters interpretieren. Die nicht enden wollende Serie von Verbrechen weist indes in eine andere Richtung.

Es genügt, sich die Statistiken des Bundeskriminalamts und des Verfassungsschutzes anzusehen. Demnach stieg die Zahl der Rechtsextremisten von 2018 bis 2019 von 24.000 auf rund 31.000, also innerhalb eines Jahres um ein Drittel. In einem solchen Umfeld wächst die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen vom Wort zur Tat schreitet.“

Gedenken an die Opfer von Hanau am Brandenburger Tor am Donnerstagabend.
Gedenken an die Opfer von Hanau am Brandenburger Tor am Donnerstagabend.

© imago images/A. Friedrichs

Der Zürcher „Tages-Anzeiger“ mahnt einen Aufstand der weltoffenen Mehrheit in Deutschland an

„Die Gefahr ist aber auch gewachsen, weil rassistische Hetze in der Gesellschaft heute verbreiteter und sichtbarer ist als vermutlich jemals zuvor seit Bestehen der Bundesrepublik. Im Internet wird Einwanderern, vor allem Muslimen, tausendfach Deportation, Gewalt oder Tod angedroht. Bei Pegida in Dresden, bei den Neuen Rechten, bei den sogenannten Reichsbürgern und auch bei manchem Politiker der Alternative für Deutschland werden Woche für Woche rassistische Parolen laut, die nicht viel weniger aggressiv und menschenverachtend tönen als jene des rechten Terroristen von Hanau. [...]

Die potenziellen Terroristen zu fassen und die gewaltbereiten Szenen in den Griff zu bekommen, genügt deshalb nicht. Die Behörden müssen auch stärker gegen Hetze und Übergriffe im Internet und auf der Straße vorgehen, notfalls mit schärferen Gesetzen. Der Gefahr aber, dass der immer hemmungslosere Hass auf „Fremde“ schleichend das Gemeinwesen vergiftet, kann nur die deutsche Gesellschaft als Ganzes begegnen. Für einen Aufstand der weltoffenen Mehrheit ist es höchste Zeit.“

Die flämische Zeitung „De Morgen“ erklärt den „Terroristen neun Stils“

„Experten zufolge sind die Gewalttäter häufig Menschen, die sich im Internet radikalisieren, ohne dass ihre Umgebung davon etwas mitbekommt. Die Deutschen sprechen in diesem Zusammenhang von „Terroristen neuen Stils“, die nicht Teil einer bei den Behörden bekannten Organisation sind, sondern in der Anonymität operieren. Der Mann, der den CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss, hatte allerdings Kontakte mit Neonazi-Organisationen. Einer dieser Clubs, Combat 18 (die Zahl verweist auf die Initialen von Adolf Hitler), wurde unlängst verboten.“

Die spanische Zeitung „El Periódico“ ist besorgt über mehr Neonazi-Gruppen und AfD-Zugewinne

„Das Schlimmste an dem Anschlag ist, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt. Deutschland, dessen Kanzlerin Angela Merkel sich in der Migrationskrise von 2015 vorbildlich verhalten hat, lebt in bewegten Zeiten mit der Vermehrung von Neonazi-Gruppen und den Wahlzugewinnen der ultrarechten Alternative für Deutschland (AfD). Das Phänomen ist nicht neu, aber in letzter Zeit hat es sich verschlimmert. [...]

Die Anschlagswelle, die Merkel mit dem Satz „Rassismus ist Gift, Hass ist Gift und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft“ verurteilt hat, fällt mit dem Riss im cordon sanitaire in Thüringen zusammen, den die rechten Parteien in Deutschland immer gegen die extreme Rechte aufrechterhalten hatten.“

Die Zeitung „Le Journal de la Haute-Marne“ aus dem ostfranzösischen Chaumont findet, dass etwas nicht mehr rund läuft in Deutschland

„Die Bluttat von Hanau ist keine Überraschung. Sie wirft ein Schlaglicht auf das rapide verschlechterte politische Klima in Deutschland. Nur wenige Tage zuvor hatten die Behörden eine Gruppe von rund einem Dutzend Männern zerschlagen, die Anschläge gegen Moscheen planten. Beide Vorfälle tragen eine rechtsextreme Handschrift, mit einem gemeinsam Motiv: Fremdenhass. In Deutschland läuft etwas nicht mehr rund. Die Spaltung der politischen Klasse ebnet wie in Frankreich extremen Parteien den Weg.“

Die belgische Zeitung „De Standaard“ erinnert daran, dass das „rechtsextreme Monster“ nur scheinbar gebannt war

„Dass die Regierung das Problem erkennt und benennt – Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur sei der rechte Terror wieder da – ist ein Schritt nach vorn. Denn lange Zeit hat die deutsche Gesellschaft so getan, als ob sie das rechtsextreme Monster gebannt hätte. In den 1960er Jahren wurde die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet, schaffte jedoch nie den Durchbruch.

Und während im übrigen Europa die rechtsextremen Parteien schnell wuchsen, schien Deutschland das letzte gallische Dorf zu sein, das standhielt. Die Deutschen schienen definitiv ihre Lektion gelernt zu haben. Oder steckten sie nur wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand? [...]

Obwohl eine große Mehrheit der Deutschen radikal gegen rechtsextremes Gedankengut ist – „Wir sind mehr“ sagen sie, verbuchte die AfD im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern beachtliche Wahlerfolge. Mittlerweile wurde die Partei vollständig von Leuten übernommen, die ihre Sympathie für die Nazi-Partei kaum noch verbergen.“

Die niederländische Zeitung „NRC Handelsblad“ (Online) verzeichnet Tabubrüche in der Gesellschaft

„Es wirkt ironisch, dass Politiker der rechtsradikalen AfD selbst gern argumentieren, ihre Partei sei „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen. Sie meinen das positiv und wollen damit sagen, dass ihr Anhang aus breiten Kreisen der Bevölkerung kommt. Doch parallel zum Aufschwung der AfD gilt in der Mitte der deutschen Gesellschaft die Feindseligkeit gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund immer weniger als ein Tabu. Das zeigt sich vor allem in einer unverblümt hasserfüllten Sprache - im Internet sowie bei politischen Versammlungen.“

Die spanische Zeitung „El Mundo“ sieht den Ursprung intoleranter Einstellungen in der Wirtschaftskrise

„Nach zwei Weltkriegen und den blutigen Erfahrungen des jüdischen Holocausts und des sowjetischen Gulags, die durch die zerstörerischsten utopischen Projekte des 20. Jahrhunderts – den Nationalsozialismus und den Kommunismus - hervorgerufen wurden, glaubte man, Europa sei endgültig gegen Kriegsgelüste geimpft. Die tiefe Wirtschaftskrise (...) und das daraus resultierende Misstrauen der Bürger gegen Gemeinschaftsinstitutionen, die sich als unfähig erwiesen haben, mit den Folgen umzugehen, haben die intoleranten Einstellungen wieder aufflammen lassen, die von den Hassreden des Nationalismus, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch angeheizt werden.

Die beiden Schießereien, bei denen am Mittwochabend in der deutschen Stadt Hanau elf Menschen ums Leben kamen, sind die tragische Folge des europaweiten Erwachens des Populismus und der extremen Rechten, die bei den europäischen Wählern immer mehr Unterstützung finden.“ (dpa/AFP)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false