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Die Geschichte: Die wundersame Welt der Lüge

Zum ersten Mal erschienen sie 1785 in London: Die Abenteuer des Baron Münchhausen. Rasch wurden die wilden Prahlereien ein Welterfolg. Später wollten auch die Nazis das nutzen.

Es war nicht mehr als ein Büchlein, gerade 49 Seiten dünn. Der englische Verlag Smith brachte es vor 225 Jahren heraus, im November 1785. Der Ladenpreis betrug einen Shilling. Dafür bekam der Leser erstaunliche Geschichten präsentiert, wie jene, in der der unbekannte Verfasser eine dramatische Schlittenfahrt schildert: Ein wilder Wolf frisst darin das bedauernswerte Zugpferd im vollen Lauf von hinten auf, bis das Raubtier selbst im Geschirr feststeckt und den Kutscher wohlbehalten nach Petersburg zieht. Unglaublich!, jubelte das Publikum und kaufte.

Ähnlich wie in unserer Zeit die Harry-Potter-Romane verbreitete sich „Baron Munchhausens Narrative of His Marvellous Travels und Campaigns in Russia“ sofort nach seinem Erscheinen wie ein Flächenbrand in Europa, rasch auch bis nach Amerika. Die Abenteuer des Barons wurden zu einem der erfolgreichsten Bestseller der Literaturgeschichte. Seit seinem Erscheinen wurde das Buch in verschiedenen Versionen weltweit über tausend Mal aufgelegt und in über 30 Sprachen übersetzt.

Beinahe so kurios wie der Inhalt aber waren die Umstände der Veröffentlichung. Denn der anonyme Autor des zuallererst in England so erfolgreichen Büchleins war ein Deutscher und ebenso sein Held – ein deutscher Baron, der damals auf seinem Gut Bodenwerder bei Hannover lebte: Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen (1720–1797). Und den sollte sein neuerdings internationaler Ruf als Lügenbaron recht bald erreichen

Nicht einmal ein Jahr nach der Erstveröffentlichung in England hatte der Dichter und Professor der Göttinger Universität Gottfried August Bürger bereits die deutsche Übersetzung publiziert mit dem Titel: „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“. Auch die deutsche Ausgabe wurde zu einem Renner.

Der echte Baron, so berichtet es die Familienchronik derer von Münchhausen, sah sich jedoch alles andere als geschmeichelt von der plötzlichen Popularität, die ihm das Buch brachte. Als er von dessen Inhalt und der Verwendung seines guten Namens im Titel erfuhr, soll er sehr wütend geworden sein. Als entwürdigend und erniedrigend empfand er es, von nun an von aller Welt bestenfalls als Schelm, wenn nicht als Aufschneider betrachtet zu werden.

Nur zu gerne hätte er gewusst, wer ihm da so übel mitgespielt haben mochte. Ihn in aller Welt als Lügner hinzustellen, war eine ehrabschneidende Frechheit. Wo er doch in eines der ältesten niedersächsischen Adelsgeschlechter hineingeboren wurde, Offizier in russischen Diensten war, ein Gutsherr und Edelmann alter Schule. Und nun sollte sein Name als Synonym für Prahlerei stehen? Was aber sollte er tun? Ein Gerichtsverfahren schwebte ihm vor. Nur gegen wen? Sowohl der Autor der englischen wie auch jener der deutschen Fassung hatten ihr Machwerk anonym veröffentlicht.

Ganz unbeteiligt am Zustandekommen des Bestsellers war der Baron allerdings nicht. Seit Karl-Friedrich von Münchhausen 1750, gerade 30 Jahre alt, als Rittmeister der kaiserlich-russischen Kürassiere abgemustert hatte, widmete er sich für den Rest seines Lebens der Bewirtschaftung seines Gutes. Zusammen mit seiner Frau Jacobine von Dunten, die er während seiner Militärzeit im russischen Baltikum kennengelernt und geheiratet hatte, führte er das beschauliche Leben eines Landedelmannes.

Am liebsten vergnügte er sich bei der Jagd, lud danach Verwandte und Freunde in die Trinkstube eines eigens dafür errichteten Pavillons ein und stopfte sich dort eine große Pfeife. Bei einem Glas Punsch oder Cognac fing er dann an zu erzählen. Münchhausen unterhielt seine Gäste mit ganz unglaublichen Geschichten seiner vergangenen Abenteuer. Zeitgenossen berichten von seiner großen Kunst, die abenteuerlichsten Übertreibungen überzeugend darzubringen. War er erst einmal in Fahrt, gestikulierte und erzählte er so gekonnt, dass der Baron dafür weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt war.

Werner Koch, Leiter des Münchhausenmuseums in Bodenwerder, ist überzeugt, dass in diesem Rahmen auch die Autoren des englischen und des deutschen Münchhausenbuches vom Baron und seinen Geschichten erfahren hatten. Wenn sie ihn nicht sogar selbst erlebt hatten, stammten sie doch beide aus dem Raum Hannover, kaum 60 Kilometer von Bodenwerder entfernt.

Aber auch zu anderen Gelegenheiten hatte Münchhausen mit seiner Erzählkunst unterhalten. So ist der Augenzeugenbericht eines H. A. Richards überliefert, der Münchhausen 1767 in einem Göttinger Gasthaus erlebte. Der Baron habe dort beim Mittagstisch die Geschichte von den Hühnern erzählt: Wie er einmal sieben Hühner auf einen Streich erlegte, nachdem er den Ladestock in sein Gewehr gestopft hatte. Mit einem Schuss habe er die Vögel aufgespießt und anschließend auf dem Stock grillen können. Offenbar ging Münchhausen mit seiner Prahlerei einem ebenfalls anwesenden jungen Offizier derart auf die Nerven, dass der ihn an Ort und Stelle zum Duell fordern wollte. Erst die Intervention der anderen Anwesenden verhinderte Schlimmeres. Sie nahmen den jungen Offizier beiseite und berichteten ihm von des Freiherren Eigenheiten. Dieser konnte sich nämlich dermaßen in seinen Fantasien verstricken, dass er selbst bald an die vollkommene Wahrheit seiner Erzählungen glaubte.

Die Münchhausenforschung geht heute davon aus, dass der Baron sicher keine seiner Possen aufgeschrieben hatte. Dennoch können einige der Geschichten auf Münchhausens Lebensstationen zurückgeführt werden. Der historische Kern des berühmten Rittes auf der Kanonenkugel, bei dem sich Münchhausen sozusagen als fliegender Fernaufklärer betätigt haben will, wird zum Beispiel auf die Teilnahme am Feldzug von 1738 während des Russisch-Österreichischen Türkenkrieges zurückgeführt. Münchhausen hatte mit großer Wahrscheinlichkeit daran teilgenommen.

Andere Geschichten haben seine winterliche Reise an den Zarenhof in Sankt Petersburg zum Hintergrund, an dem der damals 17-Jährige als Page von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem Gatten der späteren Zarin Anna Iwanowna, diente. So wie der berühmte Zopf, an dem man sich selbst aus dem Sumpfe ziehen soll, sind immer noch einige dieser Geschichten in der heutigen Alltagssprache lebendig. Mit seinen fantastischen Schwänken fabulierte sich der Aufschneider gleichsam in den Literatur-Himmel.

Nicht weniger abenteuerlich als die Münchhausengeschichten waren auch die Umstände, wie diese nach England gelangten, um von dort aus die Welt zu erobern. Hinter dem anonymen Verfasser stand der Universalgelehrte und Geologe Rudolf Erich Raspe (1736–1794).

Raspe pflegte einen verschwenderischen Lebensstil. Allein seine umfangreiche Korrespondenz kostete ihn 70 Reichstaler Porto im Jahr. Überdies leistete er sich eine repräsentative, aber kostspielige Wohnung unweit vom Hof des Landgrafen von Hessen-Kassel. Zwar hatten ihn seine überragenden Fähigkeiten rasch Karriere machen lassen. Er wurde Professor für Altertümer des Landgrafen und verwaltete auch dessen Münzkabinett. Doch obwohl er in dieser Anstellung mit 1000 Reichstalern jährlich etwa das Dreifache eines Universitätsprofessors verdiente, lebte er ständig über seine finanziellen Verhältnisse. Eines Tages begann er, Münzen aus der Sammlung zu unterschlagen, was kurioserweise nie aufgefallen wäre, hätte Raspe nicht selbst alle 16 000 Münzen katalogisiert.

Nachdem seine Verfehlung aufgedeckt wurde, entging er seiner Verhaftung 1775 durch die Flucht nach England, das er fortan nicht mehr verließ. Der offizielle Steckbrief bezifferte den Schaden der Landgräflichen Sammlung mit 3000 Reichstaler.

Dennoch stand Raspe bis zu seinem Tode als vielseitiger Gelehrter und zeitweises Mitglied der Royal Society in hohem Ansehen. Er pflegte regen Kontakt zu den bekanntesten Persönlichkeiten und Geistern seiner Zeit: Johann Gottfried Herder, Captain Cook, James Watt, Schiller, Lessing und sogar Benjamin Franklin. Er übersetzte Lessings Drama „Nathan der Weise“ ins Englische, veröffentlichte unbekannte Schriften von Leibniz und entdeckte die Härtung von Stahl durch Wolfram.

Doch auch in England war Raspe offenbar so klamm, dass sein Einkommen als Geologe im englischen Bergbau allein nicht ausreichte. Das Schreiben der Münchhausengeschichten war da der Versuch, die eigenen Finanzen aufzubessern. Und nach dem unerwartet schnellen Erfolg des Büchleins publizierte er in schneller Folge weitere Auflagen und reicherte diese mit neuen Geschichten an, die dem Geschmack des englischen Publikums entsprachen. So kamen im April 1786 die Seeabenteuer hinzu. Darauf folgten in England in drei Jahren eine 3., 4., 5. und 6. Auflage, erweitert um Geschichten, die auf Lukian von Samosata und englische Kriegsberichte zurückgehen. 1792 folgte noch ein zweiter Band.

Nicht wenige Münchhausiaden folgen älteren Schwänken und Erzählungen, die zum Teil schon im 11. Jahrhundert bekannt waren.

Mit der Zeit führten die Münchhausengeschichten ein ausgeprägtes Eigenleben. Es wurden von allerlei Autoren neue ersonnen, gar ganze Bücher in dieser Art geschrieben. Am erfolgreichsten sind aber bis heute die Ausgaben von Raspe und auch die des deutschen Übersetzers Bürger. Letzterer fügte in seiner Ausgabe eigene Geschichten hinzu.

Deren Humor wird auf der ganzen Welt verstanden. Es wird so offenkundig übertrieben, dass niemand lange braucht, um zu begreifen, dass das nicht ernst gemeint sein kann. Dennoch sind die Geschichten mit etwas Fantasie vorstellbar. Die Pointe liegt in der Aufhebung der physikalischen Gesetze und der Selbstverständlichkeit, mit der dieses berichtet wird. In heutiger Zeit finden sich ähnliche Erzähl- und Handlungsmuster in vielen Comics und Trickfilmen. Ganz wie bei der Münchhausiade, in der er sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht: Zu Beginn der Geschichte will der Held mit seinem Pferd über einen Graben springen. Doch noch während des Sprunges bemerkt er, dass der Graben zu breit ist, und dreht auf der Stelle inmitten des Sprunges um und kehrt wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Selbst der moderne Actionfilm bedient sich dieser Methode, wenn er physikalisch unmögliche Dinge als selbstverständlich geschehen lässt. Da wird der Held von einer Explosion dutzende Meter durch die Luft geschleudert, die ihn eigentlich hätte zerreißen müssen. Und nicht einmal der Anzug leidet dabei. Die größten Ähnlichkeiten zu den Münchhausiaden aber haben wohl die Abenteuer von Pipi Langstrumpf. Sie hätte eine Tochter des Lügenbarons sein können, ihre Geschichten weisen eine verwandte Erzählstruktur auf.

Auch der Münchhausen wird heute meist als Kinderbuch verstanden, bei manch einem wirkt er allerdings bis ins Erwachsenenalter nach. Als etwa der Sänger und Liedermacher Reinhard Fendrich jüngst in Berlin ein Konzert gab, besuchte er auch die alten UFA-Filmstudios. Und zwar ausdrücklich deshalb, weil dort einer seiner Lieblingsfilme, der Baron von Münchhausen, gedreht wurde.

Tatsächlich dürfte Hans Albers in der Titelrolle des Films von 1943 zum bekanntesten Münchhausengesicht überhaupt geworden sein. Für dieses Prestigeprojekt bot die NS-Führung alles auf, was sie zu bieten hatte, einschließlich des teuren Farbfilmmaterials. Für das Drehbuch wurde Erich Kästner unter Pseudonym verpflichtet – eigentlich war er von den Nazis schon früh mit Berufsverbot belegt worden. Seinen Freunden erklärte Kästner: „Der Filmauftrag kommt vom größten Lügner der Welt (Joseph Göbbels). Weshalb machen wir also nicht einen Film über den Lügner, der ihm am nächsten kommt, Baron von Münchhausen?“

Es gelang Kästner, einige versteckte und subversive Botschaften in seinem Drehbuch zu verstecken. So lässt er den Grafen Cagliostro auftreten, einen Freimaurer des 18. Jahrhunderts. Zwischen diesem Dunkelmann und Münchhausen entspinnt Kästner einen denkwürdigen Dialog. Cagliostro: „Wenn wir erst Kurland haben, pflücken wir Polen. ... Dann werden wir König!“ Worauf Münchhausen antwortet: „In einem werden wir uns nie verstehen: in der Hauptsache! Sie wollen herrschen; ich will leben. Abenteuer, Krieg, fremde Länder und Frauen – ich brauche das alles, Sie aber missbrauchen es!“

Was Frauen angeht, spielte im Leben des wahren Münchhausen lange nur eine einzige eine Rolle, seine geliebte Ehefrau. Die Familienchronik berichtet von einem kinderlosen, aber glücklichen Zusammenleben. Mit dem Tod seiner Frau aber verlor der echte Münchhausen seinen Halt in der realen Welt. Um nicht einsam zu bleiben, trug sich der 73-Jährige noch einmal mit Heiratsabsichten, woraus sich dann eine Posse entwickelte, als ob Münchhausen seine eigenen Fantastereien im Alter noch zu wirklicher Existenz bringen wollte. Die Dame, welcher er Avancen machte und später heiratete, war gerade 17 Jahre alt. Und gleich nach der Trauung zeichnete sich bereits das Ende der Ehe ab.

Es dauerte nämlich nicht lange, und der alte Münchhausen glaubte sich betrogen und gehörnt. Was folgte, war ein jahrelanger Scheidungs- und Rosenkrieg, der die Barreserven des Alten auf Bodenwerder aufzehrte. Tief gekränkt, verstarb Baron von Münchhausen im 77. Lebensjahr am 22. Februar 1797. So bitter kann die Wahrheit sein.

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