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© Gamma/Laif

Die Geschichte: Pilgern zum Gott in Frankreich

Vincent Klink ist schon Koch im eigenen Restaurant, als er 1975 nach Frankreich reist. Dort will er die Meister seines Fachs beobachten. Und bei Lyon führte ihn die Tour zum größten von allen: Paul Bocuse. Der Besuch gerät zur Orgie.

Für den ersten größeren Urlaub wurde alles verfügbare Geld zusammengekratzt, und ab ging es gen Süden. Das Rheintal hinunter, durch die Burgundische Pforte, Dijon ließen wir rechts liegen, um dann an den burgundischen Weinbergen entlangzufahren. Bald hatten wir das Lyonnais erreicht, das Zentrum der französischen Kochkunst. Wir waren in unserem VW Variant, den Vater mir spendiert hatte, weil er sich für den „Sauren Fritz“-Käfer schämte, bereits im Morgengrauen losgefahren, so dass wir mittags vor dem Restaurant Paul Bocuse parken konnten, dem berühmtesten Wallfahrtsort der Feinschmeckerei.

Unversehens befanden wir uns in einer anderen Welt. Das Gebäude war mit einer Art Lüftelmalerei verziert, welche die französische Küchengeschichte widerspiegelte. Es mutete uns schwäbische Landeier ziemlich luxuriös an: Am Eingang empfing uns ein schwarzer Diener, mit Tressen und Bordüren herausgeputzt wie ein Sarottimohr. Wenig später versanken wir in Louis-Seize-Armstühlen unter goldgehöhter Stuckdecke, inmitten einer Wandbespannung aus kardinalrot schimmernder Moiréeseide.

Der Laden war proppenvoll und im schlaraffigen Sonntagstaumel. Er wirkte ganz und gar nicht wie eine heilige Halle oder ein Tempel, sondern präsentierte sich als ein lebenspraller, bacchantischer Ort. An allen Tischen schwelgten Familien, um mich wogte reiches Matriarchat, überall schwer gefüllte Blusen despotischer Mütter und Großmütter, denen die im Lokal umhertollenden Enkel egal waren. Ich fragte mich, warum die älteren Herren, meist schweigsam und melancholisch, am Treiben nicht teilnahmen: Dachten sie immerfort schon an die Rechnung?

Elisabeth und ich mussten jedenfalls selbst bezahlen, weshalb wir die Speisekarte von rechts nach links lasen: erst die Preise, denn die verstanden wir auf Anhieb. Wenig Durchblick war hingegen bei den vielen französischen Fachbegriffen möglich, wenngleich wir uns im Elsass schon etwas Erfahrung geholt hatten. Schließlich suchten wir Zuflucht beim sonntäglichen Festmenü, das uns, Menge und Preis betreffend, am vorteilhaftesten erschien.

Eher verstört als heiter saßen wir in der bleischwer dekorierten Bocuse’schen Kulisse. Von einem Ölgemälde blickte der Maître in Siegerpose auf uns herab, weiter hinten sah man seine Gemahlin in Essig und Öl und goldbarock gerahmt. Das war meinem Wohlbefinden nicht gerade zuträglich. Überdies wurde mir klar, dass meine Seidenjerseyjacke nicht das passende Outfit war. Das Feingestrickte in kräftigem Rot erschien mir unvermittelt als überschallrot, und zu allem Übel protzte an der Schulter ein Angeberetikett mit der Aufschrift „Les Copains“. Plakativ signalisierte es einen Schwarzgeld-munitionierten Kleinunternehmer. Es war mein bestes Stück, und weil es so viel gekostet hatte, hatte ich mich vor der französischen Grenze noch für ziemlich „en vogue“ gehalten. Hier aber kündete es von teutonischer Wirtschaftswunder-Geschmacklosigkeit. Mir blieben die Blicke von den Nachbartischen nicht verborgen. Sie sahen mich an, als sei ich ein Dorschangler, der in kurzen Sepplhosen und Tirolerhut mit der Aquavitflasche in ein Foto grüßt.

Madame Bocuse defilierte durchs Lokal, sah nach dem Rechten, jedoch konsequent an uns vorbei. Kellner, feinere Herren als die anwesende männliche Kundschaft, rückten Gläser oder erledigten irgendwelche Verlegenheitsarbeiten. Jeder Tisch war bei drei Obern in Pflege, das Personal gegenüber den Gästen in erdrückender Überlegenheit. Ein-, zweimal segelte Paul Bocuse an unserem Tisch vorbei, um dann unversehens für einen Moment bei uns stehen zu bleiben. War es mein demonstrativ gesegneter Appetit oder weil meine Frau mit kennerischer Routine ihren Fisch auf dem Teller von den Gräten befreit hatte? Der Meister erkundigte sich nach meiner Profession, unserem Woher und Wohin. Ich antwortete in holprigstem Touristenfranzösisch und gestand ihm meine Berufszugehörigkeit.

Nach dem obligaten Champagneraperitif hatten wir eine Flasche Meursault-Weißwein zu bewältigen, um die Fischvorspeise angemessen zu flankieren, den legendären Loup en crôute. Bocuse kam nach diesem Schmaus wieder vorbei, zog einen Stuhl vom Tisch und nahm darauf Platz. Er blieb sitzen. Welche Ehre, welcher Wahnsinn! Ich war hin- und hergerissen zwischen Schwindelanfällen und dem pulsierenden Hochgefühl einer gewährten Audienz: Der berühmte Paul akzeptierte mich als Kollegen und bot zur Zwischenverdauung einen Schnaps an.

Das tat er in bester Absicht, doch ich geriet in große Not. Den quantitativen Anforderungen eines Gourmetmenüs mit unzähligen Gängen war ich kaum gewachsen und Elisabeth schon gar nicht. Um mich ja nicht als Landei lächerlich zu machen, hatte ich zum Hauptgang den besten Tropfen, der den Kieseln des Rhônetals entwuchs, bestellt, einen Côte Rôtie mit dreizehneinhalb Volumenprozent. Der Wein war älter als ich und harmonierte mit dem Entrecôte à la moelle aux truffes besser als mit mir. Nicht anders ging es mit dem Banyuls-Süßwein, der später dann zum Dessert gereicht wurde. Frankreich ist nicht das Land der Viertele, und so kriegte ich langsam einen Knick in der Optik, fühlte mich irgendwie wattiert und merkte gar nicht, dass Bocuse sich erhob, um auf einen anderen Tisch zuzusteuern.

Meine Krawatte war längst mit allen Spezialitäten des Hauses imprägniert und sah aus wie ein Action-Painting von Jackson Pollock. Ich hätte den Sudellappen unter Acryl sichern sollen als Dokument empirischer Essensbewältigung, Signet des Lernens und Mühens mit der Lust. Durch die Alkoholnebel konnte ich schemenhaft ausmachen, wie Dessertwagen auf uns zurollten. Drei Gefährte mit jeweils drei Etagen Süßwerk der formidabelsten Sorte: Sorbets, Crèmes, karamellbetupfte Saint-Honoré-Torten, Œufs Neige, Crèmes Caramels, Kompott und Törtchen mit bunten Beeren gekrönt; ein orgiastisches Gebirge der Gaumenlust, das ich trotzig zu erklimmen gedachte.

Es war ja alles im Menü inbegriffen. Mittendrin mit hektisch gefärbten Erdbeerbäckchen meine Gattin Lisbeth, eine wahrlich knackige Maid – und fit: Sie hatte ausschließlich Mineralwasser getrunken, während es mir oblag, diskret ihre Weingläser zu leeren. Bocuse nützte meine Wehrlosigkeit schamlos aus und nahm Lisbeths Dekolleté gründlich in Augenschein. Sie war im Himmel ihrer beruflichen Ambitionen. Ich gab mich fatalistisch dem Schwelgen hin, es schmeckte wunderbar, aber irgendwann ging beim besten Willen nichts mehr in mich hinein.

Wenig später erschien Meister Bocuse mit monarchischem Gestus erneut an unserem Tisch, vielleicht fühlte er sich von meiner untertänigen Dorfbubenbegeisterung geschmeichelt oder war von unserer Jugend karitativ gerührt. Jedenfalls hebelte er mich aus dem Brokatpolster, indem er mich aufforderte, ihn zu begleiten. Ich hatte nicht richtig kapiert, was er wollte.

Wir stiegen eine Treppe hinab und gelangten in einen Keller, der früher als Garage für Kutschen gedient haben mochte. Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen: In dem großen Raum nahm eine Jahrmarktsorgel eine ganze Wand ein. Das Gerät, reichlich mit goldenen Ornamenten und Applikationen verziert, hatte annähernd die Größe eines Eisenbahnwaggons. Es war ausgestattet worden, um größere Festplätze durchzuschütteln. Der Hausherr zog alle Register, und das Ungetüm machte genau das, was von ihm erwartet wurde. Ein infernalischer Orkan dröhnte aus den Orgelpfeifen. Mir stellte es die Nackenhaare auf, es war das reinste Erdbeben, doch das darüber liegende Restaurant und die umliegenden Häuser hielten wacker stand. Ruckartig war ich wieder nüchtern geworden, Elisabeth dagegen hatte sich mit schreckweichen Knien auf einen Stuhl gesetzt.

Bocuse, von unserer Verblüffung aufs Angenehmste berührt, strahlte wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung. Er hatte auch sonst seine Spleens: Als die Saône ein Jahrhundert-Hochwasser führte, stellte sich der bereits ältere Herr bei Eiseskälte in Badehose auf ein Surfbrett, um salutierend an der Fassade seines Restaurants entlangzufahren. Ohne flankierende Spinnereien können Männer keine Großtaten bewältigen. Kinder sind es, welche die Welt vorwärtstreiben, egal wie alt sie sind.

Nach unserem Kellererlebnis langten wir wieder im oberen Stockwerk an. Ich war nur noch bestrebt, die Fasson zu wahren und darauf zu achten, dass vom Menü alles drinnen blieb, was für teures Geld reingeschoben worden war. Es ging dann doch noch alles gut über die Bühne. Die Rechnung beglich ich mit demütigem Fatalismus und gab aus Unsicherheit zu reichlich Trinkgeld. Nach einem Abschiedskirschwasser und dem krachenden Schulterklopfen des Patrons schaffte ich es mit immer wieder einknickendem Gebein bis zu unserem kotgrünen Wagen.

Mühsam die Spur haltend, zuckelten wir ein paar hundert Meter an der Saône entlang, dann hielten wir abrupt im Straßengraben an. Eigentlich hätte ja die stocknüchterne Elisabeth fahren können, sicherlich wäre ich irgendwann wieder klar geworden, aber ihren Fahrstil fürchtete ich mehr als die Polizei. Beim Pinkeln musste ich wie in einem irren Tagtraum ans Grundwasser und an die Fische des nahen Flusses denken. Immerhin entleerte ich die Folgen einer Fünfhundert-Mark-Zeche. Ich hurgelte die Böschung zur Saône hinab und schlug am Ufer des Flusses neben meiner Frau ein. Die hatte sich bereits abgemeldet. Große Menüs fördern harmonisches Zusammensein.

Später am Nachmittag dann das summende Erwachen im leichten Bodennebel, nicht nur des Flusses. Ich hatte immer noch viel „Gas im Kopp“, rappelte mich auf und sortierte mich unter Gleichgewichtsproblemen. Nie-wieder-Alkohol-Schwüre stiegen in mir auf, Blähungen meldeten sich und trieben mich unsicheren Fußes die Böschung hoch. Tapsend in schlingernder Vertikale arbeitete ich mich dem Auto zu. Autofahren kann erholsam sein. Unter Gedudel aus dem Radio fuhren wir die Landstraße am Fluss entlang nach Norden. Allen Widrigkeiten zum Trotz regte sich kein Gedanke an Reue. Mehr Sorgen machte da der Termindruck: Das nächste Restaurant war bereits angesagt.

Text aus: Vincent Klink: Sitting Küchenbull. Gepfefferte Erinnerungen eines Kochs. Rowohlt Verlag, 19,90 €, erscheint am 2. Dezember.


PAUL BOCUSE

Seit 1765 ist die Familie Bocuse im Stammhaus in Collonges-au-Mont-d’Or bei Lyon in der Gastronomie tätig. Paul, Jahrgang 1926, bekam 1959 seinen ersten Michelin-Stern, drei Jahre später den zweiten und 1965 den dritten. Bis heute musste der „Koch des Jahrhunderts“ (Gault Millau) keinen wieder hergeben. Eine einmalige Leistung. In den 60er und 70er Jahren setzte Bocuse sich für eine regionale Küche ein, die auf frische, saisonale Produkte zurückgreift. Seitdem gilt der Franzose als Wegbereiter der „Nouvelle Cuisine“. Das führte zu einem Riesenmissverständnis, wie der Berufsesser Wolfram Siebeck befand: Tatsächlich habe Bocuse mit dem Minimalismus übersichtlich dekorierter Teller nie etwas am Hut gehabt, sondern die Qualitäten der traditionellen Küche des Lyonnais bewahrt. Und die kann sehr üppig sein, wie Vincent Klink bei seinem Besuch im Jahr 1975 erleben konnte.

VINCENT KLINK
Der Schwabe, 60, gilt als der Intellektuelle unter den Meisterköchen. Der Chef des Stuttgarter Restaurants „Wielandshöhe“ hat nicht nur einen Michelinstern und kocht im ARD-Fernsehen, der Mitherausgeber der literarisch-kulinarischen Zeitschrift „Häuptling eigener Herd“ kann auch schreiben. Nächste Woche erscheint seine Biografie, aus der wir hier ein Kapitel veröffentlichen. Es spielt 1975 – damals hatte der 26-Jährige in Schwäbisch-Gmünd ein eigenens Restaurant. Zu seiner Frankreichreise hatte Klink sich aufgemacht, um den Großen seines Fachs in die Töpfe zu gucken; mit dabei Gattin Elisabeth, die noch heute das gemeinsame Restaurant managt.

Vincent Klink

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