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Vom Aussichtsturm fällt der Blick auf die Gaststätte in Hessen. Rechts unten neben der Bank steht der Grenzstein zu Niedersachsen.

© Deike Diening

Die Tillyschanze: Leben im Niemandsland

Sie führen ein Leben mit gespreizten Zuständigkeiten und verdächtigen Papieren. Reinhold Heck und Marlies Scheffel sind ein Grenzfall, im wahrsten Sinne. Im sechsten Teil unserer Sommerserie: die Geschichte einer bundesdeutschen Ausnahme.

Niemandsland? Nein, da fangen die Beamten in den Behörden für Vermessung an zu lachen, als könne man das nicht ernst meinen. Im Weltraum vielleicht, in der Antarktis, auf den Weltmeeren, weit genug weg von allen Grenzen, erst da erlöschen politische Zuständigkeiten. Erst dort wird einer wahrlich unerreichbar für jeden Zugriff, unerreichbar für Postboten und Wahlunterlagen, für Recht und Gesetz und unerwünschte Wurfsendungen.

„Genaue Grenzen sind die Voraussetzung für ein friedliches Miteinander“, sagt Thomas Neff, Referatsleiter für Staats- und Landesgrenzen der Bayerischen Vermessungsverwaltung. Neff, an dessen Landesgrenzen besonders viele kuriose Grenzsituationen publik sind und der deswegen als Experte gelten kann, sagt, streng genommen gebe es in Europa überhaupt kein Niemandsland mehr. Nur Ausnahmen und splittrige Zuständigkeiten. Zu genau die Messmethoden, zu eindeutig die historische Entwicklung, zu ausgefeilt die Staatsverträge und zu schmal die Grenze selbst: Ist sie doch kein breiter Streifen, sondern ein Gebilde aus verknüpften Punkten. Und damit eine Linie, kein Raum.

Aber dann stößt man auf einen seltsam losgelösten Ort, mitten in Deutschland, in Hessen, direkt an der Grenze zu Niedersachsen, hoch über der Stadt Hannoversch Münden im Wald. Unter der hilflosen Postleitzahl 00000, fünf Mal die Null, sind behördlich registriert: zwei Menschen, ein Rottweiler und ein Auto mit Allradantrieb.

Obwohl für alle Steuern an die entsprechenden Stellen entrichtet werden, gilt der Forstgutsbezirk Reinhardswald dem Statistischen Landesamt weiterhin als unbewohnt. Kein Bürgermeister unterschreibt Papiere, das tut stattdessen der Leiter des Forstamts.

Reinhold Heck und Marlies Scheffel sind ein Grenzfall, im wahrsten Sinne. Wo unten im Tal Fulda und Werra sich zur Weser vereinen, stehen hoch oben am Hang ein historischer Aussichtsturm, die „Tillyschanze“, und eine Gaststätte. Da rauschen sommers die Bäume, werfen im Herbst ihre Blätter ab, grünen im Frühling erneut, und im Sommer, so sagt es der Gastwirt Reinhold Heck, „schließt sich wie von Geisterhand ein großer, grüner Vorhang vor der Stadt“.

Der Stadt, zu der sie ja nicht gehören, obwohl der Turm seit 1881 über ihr aufragt und ihr Wahrzeichen und Ausflugsziel geworden ist, zu dem man von Hann. Münden in einer halben Stunde durch den Wald heraufgelaufen ist, wo Heck dann gekühlte Getränke und warme Speisen zum Verkauf bereithält.

Der Aussichtsturm steht noch so eben in Niedersachsen, dann jedoch kommt der Grenzstein der Landesgrenze und dann erst die Waldgaststätte. Tisch und Bett, ja der ganze Betrieb, stehen in Hessen, Landkreis Kassel, Autokennzeichen KS. Der Blick geht auf Niedersachsen, aber Hessen formiert sich als 18 300 Hektar Forst – Buche, Fichte, Eiche, europäische Lärche – mit Namen Reinhardswald in ihrem Rücken.

Nie hätte Heck geglaubt, dass es ein Problem darstellen könnte, an einer innerdeutschen Landesgrenze zu wohnen. Aber seitdem er 1995 die Waldgaststätte nach einigen Jahren Leerstand wiedereröffnete, führt er hier oben ein Leben mit gespreizten Zuständigkeiten und verdächtigen Papieren: Sein Abwasser wird nach Niedersachsen entsorgt, aber seine Steuern fließen nach Hessen. Die Polizei verwendet, wenn er in eine Kontrolle gerät, viel Zeit darauf herauszufinden, was es mit seiner Adresse auf sich hat.

Sie können niemals Katalogkunden werden

Marlies Scheffel und Reinhold Heck.
Marlies Scheffel und Reinhold Heck.

© Deike Diening

Es ist ja überhaupt keine richtige Adresse, die Tillyschanze 1, die darum auch nicht mit Post beliefert wird, weshalb Heck und seine Partnerin ein Postfach mieten in Niedersachsen, unten im Ort. Hinter ihrem selbst gebackenen Apfelkuchen hervor erklärt Marlies Scheffel, dass sie mit diesem Postfach niemals Katalogkunden werden können, dass das aber zu verschmerzen sei. Sie bestellt dann halt zu ihrer Tochter in der Stadt. Lästiger ist, dass sie sich im Internet nie einen gescheiten Versicherungstarif ausrechnen lassen können, sagen sie. „Dann kommt das Feld für die Postleitzahl, und dann ist Schluss.“

Ach, sie müssen immer mal wieder kämpfen für die Teilnahme am öffentlichen Leben in dieser Republik. Wahlbenachrichtigungen für die Bundestagswahl – „Wir können sagen: Wahlbeteiligung 100 Prozent“ – erreichen sie nur auf Umwegen. Die letzte wurde an das Forstamt Reinhardswald geschickt, und bei einem weiteren Amtsbesuch stellten sie fest: Man hatte sie kurzerhand dorthin umgezogen. Heck, hieß es, solle jetzt bitte zum Einwohnermeldeamt gehen und sich wieder ummelden. Von wegen, sagte Heck da, ich habe mich ja auch nicht im Forstamt angemeldet, seht zu, wie ihr klarkommt.

Heck ist ein nachsichtiger Mensch. Aber da war er längst durch Behörden nicht mehr zu schrecken. Reinhold Heck, ehemals Weinhändler, hatte dem Land Hessen „in einem zähen Ringen“ das Grundstück herausgeleiert. Seitdem führt er ein Leben als bundesdeutsche Ausnahme. Grenzerfahrungen macht er ständig. Länderübergreifende Abkommen mussten geschlossen werden bezüglich der Entsorgung des Mülls, des Baus einer Zufahrtsstraße und der Einrichtung von fließend Wasser durch das – streng genommen nicht zuständige – niedersächsische Städtchen. „Wir geben keinen rostigen Nagel“, sollen die Hessen gesagt haben. Ohne fließend Wasser hätte er die Gaststätte aber nicht eröffnet. „Wer hat eigentlich ein Interesse an dieser Wiedereröffnung?“, fragte sich Heck und kam zu dem Schluss: „Einziger Nutznießer: Hann. Münden.“ Die Bewohner der Stadt sind ja schon immer zum Aussichtsturm heraufgekraxelt, fünf- bis sechstausend Besucher im Jahr hat der Turm, und das ist nicht schlecht bei nur 24 000 Einwohnern. Die Stadt hat also die Zufahrtsstraße gebaut und für die Wasserversorgung 750 000 Mark investiert.

Thomas Neff von der Bayerischen Vermessungsverwaltung braucht am Telefon eine knappe Stunde, bis in Berlin die Erkenntnis gesackt ist, dass Grenzen zwar idealerweise statische, auf vielfältige Weise jedoch fließende Gebilde sind. Da werden Luftbildaufnahmen aus den 60er Jahren präzisiert, weil zum Beispiel ein Bachlauf im bewaldeten Gebiet einst schlecht zu erkennen war. Da werden Flüsse, die eine Grenze darstellen sollen, aber ihr Bett verlassen haben, neu vermessen. Da werden unterschiedliche Koordinatensysteme einander angeglichen.

In einer gigantischen Rechenleistung werden zurzeit in Deutschland die Daten aus dem Gauß-Krüger-System über die dreidimensionalen Datensätze des ETRS89-Systems in das zweidimensionale UTM-System überführt. Irgendwo zwischen Politik und Mathematik findet sich eine Wahrheit.

Aber über die Jahre haben die Ämter, deren Karten nicht etwa automatisch aneinanderpassten, längst leben gelernt mit der Tatsache, dass jedes Land unterschiedliche Systeme mit eigenen Referenzpunkten entwickelt hat. Dass zum Beispiel das deutsche und das österreichische System um 27 Zentimeter in der Höhe differieren: Wien setzt den Pegel der Adria als 0, Berlin den Pegel Amsterdam.

Das jedoch sind Details, die dort, wo Heck und Scheffel sich gute Nacht sagen, keine Rolle spielen. Die Grenze selbst war niemals strittig. Wichtig war, dass es hier seit 1881 eine Schankerlaubnis gab, dass hier schon über 100 Jahre ein Gasthaus gestanden und Wirtsleute gelebt hatten.

In den 50er und 60er Jahren, sagen die beiden, soll es hier hoch hergegangen sein, und das, obwohl die Gäste auf Plumpsklos mussten und der Geiz der damaligen Wirtin verlangte, dass erst zehn Leute zusammenkommen mussten, bevor sie für alle Wasser zum Händewaschen bereitstellte. Kaffeewasser kam aus der Regentonne oder aus der Katerquelle, 800 Meter entfernt. So ging das bis 1980.

Marlies Scheffel jedenfalls, 72, kam schon als Kind zum Spielen hier hoch, sie sammelte Eicheln und bekam für das Kilo 15 Pfennige. Der Osterhase legte seine Eier hier ab, und zu Mutters Geburtstag pilgerten sie mit Kaffeepulver herauf, das sie aufbrühen ließen mit Wasser von der Quelle. Irgendwer machte 1955 ein Foto in Schwarz-Weiß, wie sie, 14 Jahre alt, vom Aussichtsturm mit ernstem Gesicht auf die Stadt herunterschaut, die ihr heute täglich zu Füßen liegt.

Denn Marlies Scheffel, gelernte Friseurin, feierte 2001 ihren schicksalhaften 60. Geburtstag hier oben in der Waldgaststätte. „Ich lass’ dich nicht mehr runter“, sagte Reinhold Heck am Abend, und da zog sie hoch aus Hann. Münden, änderte ihre Papiere, und die Einwohnerzahl des Niemandslandes stieg um 100 Prozent auf zwei. Fortan buk sie jeden Kuchen für bis zu 80 Gäste selbst, und Reinhold briet weiter seine stadtbekannten Bratkartoffeln. Morgens ab elf und bis etwa 25 Grad Celsius kommen die Wanderer, Pfadfindergruppen, Stammgäste.

Heck kümmerte sich um den Turm, der Renovierung gut vertragen konnte. Das Standesamt bietet im Turmzimmer wieder Trauungen an, Heck spricht dann ein paar Worte, und daraufhin dürfen die Brautpaare am Fuße des Turms für sich eine Rose pflanzen. Hochzeiten sind ja ebenfalls eine Gelegenheit, Grenzen abzuerkennen.

Heck genießt Verkehrskontrollen: Die Papiere lauten auf PLZ 00000

Die Tillyschanze von Münden aus gesehen.
Die Tillyschanze von Münden aus gesehen.

© Deike Diening

Man sollte meinen, dass Grenzen an unzugänglichen Orten, in den Bergen, in unwegsamem, unbewohntem Gelände kaum eine Rolle spielen. Ja, dass es kaum möglich ist, sie dort zu setzen und zu überprüfen. Aber nein, sagt Neff, der Vermessungsbeamte, die Staatsgrenze betrifft Hoheitsgebiet, Zuständigkeiten von Bergrettung und Gerichten, und selbst hoch im Gebirge grenzen aneinander Weidegesellschaften und Jagdreviere. Als es zum Beispiel darum ging, ob der „Ötzi“, die Gletschermumie, nun auf österreichischem oder italienischem Gebiet liege, da stieg ein österreichischer Vermessungsbeamter mit einem Hubschrauber auf, erkannte Grenzsteine, Verlauf und Fundort – und der Ötzi fiel wegen ein paar Metern nur an Italien.

Und wenn die Flüsse ihr Bett verlassen? Folgen die Grenzen den Flüssen?

Je nach Staatsvertrag, sagt Neff. Falls die Abweichungen als „geringfügig“ erkannt werden, folgen sie meist nicht, wenn sie mehr als 100 Quadratmeter betragen, werden die Karten nachgeführt.

Es ist also möglich, dass ein Land auf friedlichem Wege Land gewinnt? Wird eines größer, das andere kleiner?

Nein, sagt Neff. Man macht dann einen  Gebietstausch. Kein Land verliert, keines gewinnt. Das ist bei Staatsgrenzen und Landesgrenzen ähnlich. Probleme entstehen nur, wenn die Flächen bewohnt sind. Dann müssen die Bewohner zustimmen.

Es dauert nur ein paar Minuten, da hat Neff per Mail ein Paket von Zeitungsartikeln gesandt, in denen die Aufschreie der Bürger entlang der bayerischen Landesgrenzen dokumentiert sind.

Unter ihnen der preisgekrönte, fränkische Obstbrenner Arno Dirker aus Mömbris: Hätte er einem Gebietstausch zugestimmt, stünde seine Brennerei auf bayerischem statt auf hessischem Grund, denn die Behörden wollten hier eine mäandernde Grenze, die sogenannte „Hessenkurve“, begradigen. Bayern aber erkannte den Typus seiner Brennanlage nicht an. So verzweifelt war er, dass er versprach, wenn er drum herumkommt um diesen Tausch, drum herumkommt, seine gut gehende Destille aufzugeben, dann baue er zum Dank eine Kapelle. Als die Behörden schließlich die Grenze um ihn und seine Flurstücke herumführten, erstand das Gotteshäuschen, fränkischer Fachwerkstil, 60 000 Euro, Eröffnung 2010.

Vielleicht gibt es kein echtes Niemandsland mehr. Aber Geschichten, die der Föderalismus schreibt. Ein Gewirr von Zuständigkeiten, wenn Grenzen durch Gärten führen, wenn Flüsse begradigt werden, die als Grenzen gedacht waren.

Erstaunlich findet der Vermessungsbeamte Neff, dass bei aller Genauigkeit, Politik und Mathematik, am Ende doch Befindlichkeiten, das Zugehörigkeitsgefühl von Privatpersonen, den Ausschlag geben. „Bürgerwille,“ sagt er, „setzt dann dem Verwaltungshandeln Grenzen.“

Es ist gut sichtbar, dass dem Gastwirt Reinhold Heck die besonderen Umstände seines Wohnortes Vergnügen bereiten. Er genießt es, wenn ein Polizist ihm in der Verkehrskontrolle sagt: „Fahren Sie weiter, wir kriegen nur Ärger mit Ihnen.“ Denn die Fahrzeugpapiere lauten auf 00000, Forstgutsbezirk Reinhardswald. Damit er bei solchen Gelegenheiten nicht zu viel Zeit verliert, führt er Bescheinigungen des Forstamtes mit sich, die noch einmal bezeugen, dass sein Wohnort wirklich existiert. Außerdem eine Bescheinigung für Emma, die Rottweilerhündin, die an diesem verflixten Ort natürlich auch keine Hundemarke ausgestellt bekommt.

Und dann geht an der Tillyschanze plötzlich ein sommerlicher Wolkenbruch nieder, die Tropfen springen von den Tischen zurück, werden zurückgeschleudert, als würde sich der nasse Wald schütteln, und auch dies ist der Grund, weshalb die beiden Einwohner nirgends anders mehr wohnen wollten. Ihr Leben nicht mehr eintauschen wollen gegen das flatterhafte Leben in der Stadt. Sie haben sich gewöhnt an die frische Luft hier oben, die Brise, die Geräusche des nächtlichen Waldes, seine geradezu märchenhafte Tiefe, den Hirsch, der neulich nachts zum Schlafzimmerfenster hereinschaute und dann schnell entsprang.

Doch täglich fahren sie zusammen runter in den Ort, trinken ihren Kaffee dort und leeren ihr Postfach in der vollkommenen niedersächsischen Normalität.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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