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Panorama: Die wilde Sieben

In Japan werden Erdbeben simuliert: Ein Erlebnis, bei dem das richtige Verhalten im Ernstfall geprobt wird

Erst wackeln nur die Bücher. Dann kippen sie uns in den Nacken, und schließlich stürzt das Regal. Und wir purzeln übereinander. Chaos nach wenigen Sekunden.

Darauf hatten wir gewartet. Auf die Katastrophe. Gespannt wie Tiere im Versteck, bereit zum Sprung, zur Flucht. Erdbeben Stärke sieben. Fast ganz Kobe ist darunter zusammengesackt, vor zehn Jahren. 5500 Menschen sind gestorben, knapp 37 000 wurden verletzt, nur 20 Sekunden Rütteln stürzten die Stadt ins Verderben. Wir sterben nicht. Weil keiner stirbt unter Schaumstoffbüchern und Regalen aus Polstern, die im Fallen von Haltebändern gestoppt werden. Weil unsere Katastrophe nur gespielt ist. Ein simuliertes Beben im Yokohama City Municipal Disaster Prevention Center.

Hunderte von Japanern kommen hierher, vor allem an den Wochenenden: Ein Ausflug mit Nervenkitzel. In der Woche bevölkern Schulklassen das Center. Immer nur eine Hand voll Besucher gleichzeitig darf in die Kammer des Schreckens. „Erst erleben wir die Stärke drei“, erklärt die freundliche Dame in Uniform. Es rüttelt ein bisschen, die meisten nicken lächelnd – das ist fast Alltag in einem Land, in dem die Erde alle paar Wochen in Unruhe gerät. Die Fünf lässt die rosa Schaumstoffwälzer schwanken, aber auch danach herrscht eher ausgelassene Stimmung. Ein Déjà-vu für die meisten Japaner. Die Sieben aber hinterlässt Schweigen, ein verlegenes Lächeln – und eine Ahnung von Hilflosigkeit.

Jeder Japaner weiß, was zu tun ist: Jedes Jahr am 1. September zum Jahrestag des großen Kantobebens 1923 gibt es Katastrophenschutzübungen, an denen auch der Premierminister teilnimmt. In Kindergärten und Schulen müssen die Kleinen immer wieder testweise unter Tische und Türrahmen flüchten und sich zur Evakuierung im Schulhof einfinden. Man weiß, dass das Gas auszustellen ist. Und dann ist da noch der Erdbebenrucksack, mit fünf Litern Wasser, ein paar unverderblichen Lebensmitteln, Taschenlampen, Gaskocher. Aber nur in wenigen Wohnungen ist er tatsächlich schon gepackt, nur 20 Prozent der Japaner haben schon einmal die Erdbebenfestigkeit ihres Hauses untersuchen oder verbessern lassen. Obwohl die zwei starken Beben im Sommer seit langer Zeit wieder Angst bei den Tokyotern hinterlassen haben. Eines davon hatte die Stärke 6,1 – seit 13 Jahren das heftigste. Häufige, kurze Beben vermögen die Japaner eher zu beruhigen; erst wenn sie seltener werden, wird es gefährlich, warnen Erdbebenforscher. 64,4 Prozent aller Japaner sind überzeugt, dass „the big one“, das statistisch schon lange erwartete schwere Beben, nah ist.

Die Theorie im Kopf, und jetzt ein bisschen Furcht im Bauch: So ist es also mit der Sieben. Aber wie ist es, dagegenzuhalten mit seinem Leben? In einer gläsernen Zelle im Center brennt es lichterloh. Ein Bild von Feuer aus dem Projektor. Wir nehmen den Feuerlöscher in die Hand, das erste Mal im Leben – ein Hebel, kein Knopf, aha. Der Strahl trifft, die Flammen sterben.

… Und wenn es kommt, dann laufen wir – ein alter Kinderreim, leicht abgewandelt. Aber durch Dunkelheit rennt es sich schlecht. Stockduster ist der Raum, in dem wir das Tasten üben sollen. Draußen am Monitor verfolgen wir die Bewegungen derjenigen, die vor uns dran sind, ihr Stochern, Zaudern. Dann sind wir es selbst, die stochern, zaudern, irren. Auch ohne die Sieben. Ohne die Angst vor Feuer oder Spalten, die sich auftun könnten. Dann laufen wir. Und wenn das Haus voller Rauch ist? Einen anderen Raum müssen wir auf allen Vieren durchkriechen – durch Qualm, der in der Nase beißt. Yoshi, 40, gibt seiner Tochter Yukie, vier, einen Schubs: „Ich will, dass sie das nicht zum ersten Mal macht, wenn …“ – Er stockt.

Anschließend üben wir, einen Notruf über das Telefon loszulassen, die Worte kommen schnell und leicht. Weil keine Panik die Konzentration aus dem Hirn schmeißt. Dann spielen wir Flüchten. Unser Startpunkt: eine Wohnung. Der Weg voller plötzlicher Gefahren – stürzende Strommasten, brennende Türen, klaffende Bodenspalten. Doch unsere Beine stehen auf festem Boden, nur ein Cursor muss durch das Katastrophenszenario auf dem Bildschirm bewegt werden: schnell reagieren, ein Spiel.

Kinder lachen, wenn die Masten fallen. Der Gedanke an den Ernstfall ist weit. Die Sieben ist in diesem Moment nur ein Wort. Game over. Plötzlich nagt ein ungutes Gefühl an der Leichtigkeit des Seins. Denn die Masten gibt es ja wirklich, die Türen auch. Nur die Sieben gibt es nicht. Noch nicht.

Auf dem Rückweg gehen wir an der Simulationskammer vorbei. Ein Kind schwankt kichernd beim Herauskommen. Schuljungen proben an einem Gerät, das Dezibelstärken von Stimmen prüft, wie laut sie um Hilfe brüllen können. „Mein Cousin ist in Kobe verschüttet worden. Den hat man nicht gehört“, erzählt ein älterer Mann nachdenklich.

Die Sieben: zwei Minuten Rütteln, nicht in Rosa und kein Schaumstoff, kein Game over. Zeit, den Rucksack zu packen.

Silke Pfersdorf[Yokohama]

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