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Panorama: Die wilden Helden der DDR

Vor 30 Jahren begann der Bau der Erdgastrasse von Russland nach Westeuropa. 25 000 Ostdeutsche haben geschuftet – und gefeiert.

Sie meiden den Friseur wie die Pest. Sie wollen wild aussehen, möglichst Vollbart und mindestens schulterlanges Haar tragen. Und falls die Pracht auf dem Haupt doch einmal zu üppig sprießen sollte, genügen einige schnelle Schnitte mit der Schere vor dem Spiegel. So kommt ein bisschen Abwechslung in den Alltag.

Das waren Helden. Wer selbst dabei war, denkt auch nach 30 Jahren noch mit Wehmut zurück. Die andere Seite dieser Freiheit bereitete Anfang der achtziger Jahre ganzen Planungsstäben in Ostberliner Ministerien großes Kopfzerbrechen. Denn sie hatten gleich Dutzende komplette Friseursalons verpacken und auf eine bis zu 3000 Kilometer lange Reise nach Osten schicken lassen. Da standen sie in den trostlosen ukrainischen und russischen Weiten zusammen mit Bergen von Kartons voller Haarpflegemittel, Föhne oder Rasierer herum. Selbst für die wenigen Frauen unter den prognostizierten 10 000 Kunden lohnte sich der Aufwand nicht. Der ganze Kram wurde wieder auf Lastwagen verladen und in die DDR zurückgebracht.

Diese Geschichte gehört zu den vielen Episoden, die gerade in diesen Tagen in lockeren Runden im Osten zwischen Ostsee und Erzgebirge erzählt werden. Denn vor drei Jahrzehnten hatte sich die DDR zur Teilnahme an dem größten Bauvorhaben des gesamten Ostblocks entschlossen. Sie schickte zwischen 1982 und 1990 insgesamt rund 25 000 bestens ausgebildete Arbeiter, Ingenieure, Monteure, Architekten, Köche, Ärzte, Bus- und Lkw-Fahrer und anfangs selbst Friseure in die Sowjetunion, um hier die Erdgasleitung aus Sibirien bis an die ukrainische Westgrenze zu verlängern. Mehrere „sozialistische Bruderländer“ teilten sich die Arbeit an dem 4451 Kilometer langen Strang von Urengoi bis Ushgorod und einigen Abzweigen in Richtung Moskau. Ein Großteil des Erdgases strömte zwar für dringend benötigte Devisen nach Westeuropa, doch auch die DDR gelangte nur durch den gigantischen Beitrag zu diesem als „Jahrhundertbauwerk“ gefeierten Vorhaben an die dringend benötigten Rohstoffe aus dem Sowjetreich. Bis heute gehen die Meinungen aber weit auseinander, ob die Erdgastrasse nun den „Sargnagel“ für die sich ohnehin schon am Rande der Pleite entlanghangelnde Wirtschaft bedeutete oder ihr Sterben noch einige Jahre verzögerte.

„Auf jeden Fall hat sie die daran beteiligten Menschen verändert“, sagt Hajo Obuchoff, der erst mit einem „Disko-Mobil“ zur Unterhaltung der „Trassniks“ zwischen den Baustellen steuerte und später als Fotograf das Geschehen verfolgte. „Viele wollten einfach mal raus aus dem Land und sich wie Helden fühlen. Die haben es doch im Heimaturlaub nicht lange ausgehalten und wollten schon nach zwei oder drei Wochen wieder zurück.“ Die zotteligen Haare seien ein Markenzeichen gewesen, so dass die Friseurläden wirklich niemand brauchte. Zusammen mit den alten „Trassen-Hasen“ Lutz Wabnitz und Frank Michael Wagner hat er jetzt das Buch „Die Trasse“ geschrieben. „Vielleicht hilft es, die Erinnerung an das im Westen weitgehend unbekannte und im Osten fast schon vergessene Bauwerk wach zuhalten“, sagt Obuchoff. Die Sache mit den Friseuren ist nach seinen Worten durchaus zu erklären. Die Planer in den Ministerien hätten es einfach gut gemeint, weil sie fast den kompletten DDR-Alltag an die Trassenstandorte übertragen mussten. Tatsächlich fällt es leichter, diejenigen Produkte aufzuzählen, die für den Trassenbau und die Versorgung der ständig dort beschäftigten 8000 bis 10 000 „Delegierten des Zentralen Jugendobjektes“ aus der Sowjetunion besorgt wurden: Kies, Steine, Zement und etwas Gemüse sowie Milch. Der ganz große Rest kam mühsam mit Zügen, Lastwagen oder Flugzeugen aus der fernen Republik, also Lebensmittel, Baumaterialien, Lastwagen, Busse, Kosmetika oder Alkohol. Letzterer erwies sich nicht nur als Seelentröster, sondern ab Mitte 1986 auch als ideales Mittel für die Kontaktaufnahme zur Bevölkerung außerhalb der offiziellen Freundschaftstreffen. Schließlich hatte Michail Gorbatschow damals doch tatsächlich versucht, den übermäßigen Wodka-, Sekt- und Bierkonsum im Land einzuschränken. Am Ende dürfte das daraufhin selbst gebrannte Gesöff wohl ebenso viele Menschen dahingerafft haben wie der reguläre Alkohol vor dem großflächigen Verkaufsverbot ab 1. Juni 1986.

In der Umgebung der DDR-Barackenlager bestand angesichts des regen Tauschhandels über die Zäune keine Vergiftungsgefahr. Nordhäuser Doppelkorn, der Wermutschnaps Amor, bulgarische Rotweine oder Weinbrand wechselten gegen Schallplatten westlicher Gruppen, Äxte, Beile und andere Werkzeuge oder gegen eine stattliche Rubelsumme in großer Zahl ihre Besitzer. Solche offiziell nicht erlaubten Geschäfte fanden auch an den Baustellen mitten in den kleinen Orten statt. Schließlich errichteten die Arbeiter mit dem Symbol einer Pipeline am Ärmel auch Wohnblöcke, Kulturhäuser, Kaufhallen, Kindergärten und Sozialgebäude, deren Kosten im großen Paket ebenfalls gegen die Rohstofflieferungen verrechnet wurden.

Auch dafür kamen alle Betonplatten, Fenster, Türen, Treppen, Waschbecken oder Regale und Tische aus einem Wohnungsbaukombinat der DDR. Weil diese Praxis den dringend auf eine Wohnung wartenden Familien in der Heimat nur schwer zu vermitteln war, wussten die Strategen in der Parteiführung nur einen Ausweg: „Über den Bau der Erdgastrasse in der Sowjetunion wird ab sofort nicht mehr berichtet oder nur nach Genehmigung des vorgelegten Textes“, hieß es beispielsweise in regelmäßigen Abständen zwischen 1983 und 1988. Die Arbeit ging natürlich trotzdem weiter, so dass jede Woche mehrere schwer beladene Güterzüge in Richtung Osten geschickt wurden. Dabei verschwand allerdings manchmal nicht nur die Ladung, sondern auch mal ein Waggon oder sogar ein ganzer Zug. Nachforschungen waren meist zwecklos, zumal niemand solche Zwischenfälle im „Interesse der unverbrüchlichen Freundschaft“ beider Länder an die große Glocke hängen wollte.

Dafür entwickelten sich gerade durch die Baustellen in Siedlungsnähe so manche Liebesbeziehungen zwischen einheimischen Frauen und den „Helden aus dem Westen“, wie es hieß. Die ersten Hochzeiten glichen noch einem kleinen Staatsakt mit allen möglichen propagandistischen Ausschmückungen. Spätestens nach der 20. „Freundschaftsheirat“ wollten die sowjetischen Behörden aber die große Euphorie bremsen. „Die Deutschen schnappen uns die ganzen jungen Frauen weg“, lautete der Vorwurf der örtlichen Gemeindevertretungen. Bürokratische Schikanen waren die Folge. „Meine Frau musste damals beispielsweise unbedingt eine Bescheinigung der Stadtbibliothek vorlegen, dass sie alle jemals ausgeliehenen Bücher auch wieder zurückgebracht hatte“, erinnert sich Autor Hajo Obuchoff, der seine große Liebe in einem „Trassendorf“ kennengelernt hatte. „Der Zettel war entscheidend für die Eheschließung und die spätere Ausreise, aber oft nur schwer zu bekommen.“

Trotz dieser und vieler anderer Hindernisse ließen sich die Paare nicht beirren. „Man spricht von mindestens 500 deutsch-russischen und deutsch-ukrainischen Paaren“, meint Lutz Wabnitz, der als Fotograf immer wieder an der Trasse im Einsatz gewesen war. „Davon sollen aber nur noch 50 bestehen.“ Der Grund dafür sei seiner Meinung nach nicht schwer zu erraten. „Zuerst wollten die jungen Frauen unbedingt heraus aus ihrem Provinznest und himmelten deshalb ihren vermeintlichen Traumprinzen aus dem angeblich so reichen Land wie verrückt an. Als sie dann aber endlich in der DDR angekommen waren, fielen ihre Blicke plötzlich auf Männer, die viel eher dem Idealbild entsprachen und noch viel mehr Geld besaßen.“ Die Scheidung war dann oft nur noch eine Frage der Zeit.

Dennoch kamen die Trennungen für viele Freunde und Bekannte überraschend. Denn die Trassenarbeiter galten wegen des doppelten Verdienstes, der bevorzugten Zuteilung einer Neubauwohnung, eines Trabbis, eines Studienplatzes und des Genex-Kontos als eine ausgesprochen gute Partie. Der Inhaber eines solchen Kontos durfte wegen der von ihm gesparten Rubel in einem Katalog voller seltener Artikel blättern und diese auch bestellen. Doch die oft übereilt geschlossenen Ehen waren dadurch nicht stabiler.

Wer als ehemaliger Teilnehmer heute an den regelmäßigen Treffen der damaligen Trassenerbauer teilnimmt, spürt viel Sehnsucht nach der alten Zeit. Wenn auch in den Geschichten aus den erlebten minus 40 Grad schnell minus 45 Grad werden, der Morast zum nicht beherrschbaren Sumpf mutiert und aus dem feuchtfröhlichen Abend ein hochprozentiges und bis zum Sonnenaufgang dauerndes Saufgelage wird, möchte doch niemand die Zeit an diesem vor 30 Jahren begonnenen „Jahrhundertbauwerk“ vermissen.

Hajo Obuchoff, Lutz Wabnitz, Frank Michael Wagner, „Die Trasse“, Eulenspiegelverlagsgruppe, 19,95 Euro.

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