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Ein bewaffneter Polizist läuft an den Kreuzen zum Gedenken an die Ermordeten vorbei.

© Chandan Khanna/AFP

„Dafür gibt es keine Entschuldigung“: US-Behörde räumt schwere Fehler bei Schulmassaker-Einsatz ein

Der 18-jährige Attentäter in Uvalde konnte sich eine Stunde lang im Klassenraum verschanzen, ehe die Polizei einschritt. Hätten Kinder gerettet werden können?

Als der Vater den Namen seiner Tochter sagt, bricht ihm die Stimme weg. Angel Garza spricht zu dem CNN-Journalisten Anderson Cooper und erzählt, wie er als Sanitäter zur Grundschule seiner Tochter gerufen worden war.

Dort habe er ein blutüberströmtes Mädchen gefunden und wollte ihr helfen. Das Mädchen sagte, sie sei okay, aber sie habe dabei zusehen müssen, wie ihre beste Freundin erschossen worden sei. Als Angel Garza nachfragte, wer die Freundin gewesen sei, nannte das Mädchen den Namen seiner zehnjährigen Tochter: Amerie.

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Es sind Geschichten wie diese, die das Grauen des Massakers an der Robb Elementary School im texanischen Uvalde immer plastischer machen. All die Tragödien, der Schmerz so vieler Eltern, Geschwister, Lehrer – es ist kaum auszuhalten.

Und es hört einfach nicht auf. Zwei Tage nach dem Amoklauf eines 18-Jährigen, der 19 Grundschüler und zwei Lehrerinnen tötete, bevor er selbst von Einsatzkräften erschossen wurde, stoppte das Herz von Joe Garcia. Garcias Frau Irma, 48, war eine der getöteten Lehrerinnen. Wie die Familie des 50-Jährigen erklärte, starb er „an einem gebrochenen Herzen“, weil er die Liebe seines Lebens verloren habe. Das Paar, das laut der Website der Robb Elementary School 24 Jahre lang verheiratet war, hinterlässt vier Kinder im Alter zwischen zwölf und 23 Jahren.

Der Schütze hat sich eine Stunde verbarrikadieren können

Unter den Schmerz und die Trauer mischt sich aber auch immer mehr Wut. Vor allem, weil der Einsatz der Sicherheitskräfte am Dienstag zunehmend kritisch gesehen wird.

Nach anschwellender Kritik von Eltern und anderen Zeugen gab ein Vertreter des texanischen Innenministeriums zu, der Schütze habe sich „rund eine Stunde“ in der Grundschule verbarrikadiert, während die Polizei, die kurz nach dem Täter eingetroffen war, auf Verstärkung gewartet habe. Die Einsatzleitung argumentiert, dass die Polizisten in dieser Zeit andere Schüler und Lehrer in Sicherheit gebracht und versucht hätten, mit dem Schützen zu verhandeln.

Steven C. McCraw räumte am Freitag Fehler ein.
Steven C. McCraw räumte am Freitag Fehler ein.

© CHANDAN KHANNA / AFP

Es sei falsch gewesen, nicht früher in den Klassenraum einzudringen, in dem sich der Amokläufer mit Schülern und Lehrern verschanzt hatte, sagte am Freitag nun der Direktor der Behörde für öffentliche Sicherheit in Texas, Steven McCraw. „Es war die falsche Entscheidung. Punkt“, sagte McCraw. „Dafür gibt es keine Entschuldigung.“

Der Behördenchef berichtete am Freitag, 19 Polizisten seien bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Flur vor dem Klassenraum postiert gewesen, hätten aber keine Versuche unternommen, in den Raum einzudringen und den Schützen zu stoppen. Stattdessen sei in jenem Moment die Entscheidung getroffen worden, auf Spezialkräfte zu warten. Dies habe sich im nachhinein als Fehleinschätzung erwiesen. Erst um 12.50 Uhr öffneten Spezialkräfte die Tür zum Klassenraum mit einem Schlüssel, wie McCraw weiter schilderte. Diesen Schlüssel hätten sich die Einsatzkräfte vom Hausmeister besorgt.

[Lesen Sie auch: Das sind die Opfer von Uvalde – und ihre Geschichten (T+)]

Mehrere Kinder hätten aus dem Klassenraum die Polizei angerufen, sagte Steven McCraw. Der erste Anruf sei um kurz nach 12 Uhr Ortszeit eingegangen. Etwa 40 Minuten später habe ein Kind bei einem Anruf gebeten, „bitte jetzt die Polizei zu schicken“.

Eine Schülerin habe mehrfach den Polizeinotruf gewählt, mit flüsternder Stimme von mehreren Toten berichtet, sagte McCraw. In einem Anruf um 12.16 Uhr Ortszeit habe sie gesagt, acht bis neun Schüler seien noch am Leben.

Auf die Frage, wie viele Kinder während der Wartezeit erschossen worden seien und andernfalls womöglich hätten gerettet werden können, sagte er, dies werde noch untersucht. „Wir sind nicht hier, um zu verteidigen, was passiert ist“, sagte er. „Wir sind hier, um die Fakten darzulegen.“ Unter dem Strich bleibt die bittere Erkenntnis: Eine Stunde lang ließen sie den 18-Jährigen Grundschüler ermorden – auch das ist schier unvorstellbar.

Kinder trauern um die Opfer des Massakers vor Kreuzen, die zum Gedenken an die Opfer aufgestellt wurden.
Kinder trauern um die Opfer des Massakers vor Kreuzen, die zum Gedenken an die Opfer aufgestellt wurden.

© Wu Xiaoling/XinHua/dpa

Nach und nach wird der Tathergang klar. Demnach betrat der Täter das Schulgebäude ungehindert durch eine unverschlossene Tür. Zunächst hatte es geheißen, dass er sich den Weg freigeschossen hatte. Dann verbarrikadierte er sich in dem Klassenraum, in dem er alle 21 Opfer erschoss. Mit seinen zwei Sturmgewehren gab er hunderte Schüsse ab.

Die Angehörigen sind entsetzt über diese fatale Polizeitaktik. „Da waren mindestens 40 bis an die Zähne bewaffneten Polizisten, aber sie haben verdammt nochmal nichts unternommen, bis es viel zu spät war“, sagte Jacinto Cazares, dessen Tochter getötet worden war, dem Sender ABC. „Die Situation hätte schnell vorüber sein können, wenn sie eine bessere taktische Ausbildung gehabt hätten.“

Zwei Videos im Internet zeigten verzweifelte Eltern, die die Beamten auffordern, die Grundschule zu stürmen, und selbst zum Gebäude vordringen wollen, von Polizisten aber zurückgehalten wurden. Angeli Rose Gomez, deren Kinder sich in der Schule aufhielten, berichtete dem „Wall Street Journal“, sie sei in Handschellen abgeführt worden, nachdem sie und andere die Polizei zum Eingreifen gedrängt hätten.

Seine Mutter beschreibt ihn als oftmals wütend und aggressiv

Warum der 18-Jährige, der zuerst seiner Großmutter ins Gesicht geschossen hatte, bevor er die Grundschule stürmte, einen Massenmord begehen wollte, ist weiter unklar. Ehemalige Schulkameraden berichteten, er sei wegen eines Sprachfehlers schikaniert worden, habe aber auch andere gemobbt. Ramos sei selbst ein „richtiger Mobber“ gewesen, der ordentlich ausgeteilt habe, sagte der 18-jährige Jaime Cruz der Nachrichtenagentur AFP. Ramos’ Mutter Adriana Reyes beschrieb ihren Sohn als oftmals wütend und aggressiv. Aber er sei kein „Monster“ gewesen, sagte sie ABC News.

Während die Menschen in Uvalde mit dem Unfassbaren klarzukommen versuchen, debattiert der Rest des Landes darüber, wie und ob solche Taten verhindert werden könnten. Die Demokraten versuchen immer wieder, die Waffengesetze zu verschärfen, scheitern aber an dem Widerstand der Republikaner, die sich auf das in der Verfassung gesicherte Recht, eine Waffe zu tragen, berufen.

Gerade trifft sich die Waffenlobby in Houston

Dafür verantwortlich ist auch die mächtige Waffenlobby NRA, die die Republikanische Partei mit viel Geld unterstützt und sich massiv gegen strengere Regulierungen wehrt. US-Präsident Joe Biden hatte in seiner Reaktion am Tag des Massakers gefordert, dass das Land den Kampf mit der NRA endlich aufnehmen müsse.

Wenn Biden am Sonntag in die texanische Kleinstadt Uvalde reist, um gemeinsam mit First Lady Jill Biden und den Bewohnern der Stadt um die 21 Todesopfer zu trauern, hat sich die NRA im wenige Autostunden entfernten Houston zu ihrem Jahrestreffen versammelt. Am Freitagnachmittag ist eine Rede von Ex-Präsident Donald Trump geplant.

NRA-Tagungsteilnehmer sehen sich Gewehre und Handfeuerwaffen in Vitrinen an.
NRA-Tagungsteilnehmer sehen sich Gewehre und Handfeuerwaffen in Vitrinen an.

© Michael Wyke/dpa

Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, sagte seinen Auftritt ab. Er werde stattdessen an einer Pressekonferenz in Uvalde teilnehmen, hieß es in US-Medien. An die Teilnehmer des NRA-Treffens werde er sich über eine Videoschalte wenden.

Ihre Fassungslosigkeit über das schlimmste Schulmassaker seit knapp zehn Jahren äußern auch Prominente im ganzen Land. Der Schauspieler Matthew McConaughey, der in Uvalde geboren wurde, erklärte, die Waffengewalt sei „eine Epidemie“, die sich kontrollieren lasse. Egal, wo man politisch stehe, wüssten alle, „dass wir das besser machen können“, schrieb er in einer Mitteilung. „Es müssen Taten folgen“, damit kein Elternteil das erfahren müsse, was die Eltern in Uvalde und nach anderen Schulschießereien erlebt hätten.

Solche Tragödien dürften nicht als Status Quo akzeptiert werden. McConaughey hatte in den vergangenen Jahren öffentlich darüber nachgedacht, als Gouverneur von Texas zu kandidieren, sich aber letztlich anders entschieden. Dennoch wird weiter spekuliert, ob er in die Politik wechseln könnte – in welcher Partei ist aber unklar. In seiner Mitteilung kam das Wort „Waffengesetze“ zumindest nicht vor.

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