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Der russische Youtuber Juri Dud in einer Szene seines Films "Kolyma", in dem er auf der Suche nach ehemaligen Straflagern zur Zeit des Sowjetdiktators Stalin reist.

© Juri Dud/Youtube/dpa

Doku „Kolyma – Heimat der Angst“: Gulag auf Youtube

Der Youtuber Juri Dud erklärt den Schrecken der Lager - und erreicht ein Millionenpublikum. Sein Erfolg steht in starkem Kontrast zum wachsenden Stalin-Kult.

„Ist das wirklich Geschirr?“ Der junge Mann im Karohemd deutet auf die Gegenstände, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Die Museumsleiterin nickt. „Ja, das wurde am Ort des alten Lagers gefunden. Die Häftlinge haben es selbst angefertigt.“ Eine rostige Schale, geklopft aus Konservenblech. Eine filigrane Gabel, ein abgeschlagener Trinkbecher. Das Lager hieß Butugytschag, „verwunschener Ort“ in der Sprache der sibirischen Ureinwohner. Es lag im Fernen Osten Russlands, in der Nähe des Flusses Kolyma. Die Insassen bauten ohne Schutz Uran ab. Viele starben an den Folgen der Zwangsarbeit. Museumsleiterin Inna Gribanowa erzählt dem jungen Mann von Schneestürmen im Sommer, von Wintertemperaturen von minus 40 Grad und weniger. Die Schneedecke war so dick, dass man sie mit Äxten durchhacken musste. „Hart wie ein Brett“, sagt die ältere Frau.

Für Historiker, die sich mit der Geschichte des sowjetischen Gulag-Systems beschäftigen, sind diese Details über den Alltag in den über die Sowjetunion verteilten Lagern nicht neu. Für die meisten Zuschauer der Doku „Kolyma – Heimat der Angst“ hingegen schon. In Russland wird seit einiger Zeit das Erbe von Diktator Josef Stalin nostalgisch verklärt. In aufklärerischer Absicht thematisiert der Film die Verbrechen der Sowjetmacht, die im Namen des Fortschritts begangen wurden. Möglich, dass manche Jugendliche hier zum ersten Mal ausführlich von den Lagern hören. In einer Sprache, die sie verstehen.

„Hauptfeind der Freiheit“

Der Mann im Karohemd heißt Juri Dud, ist 32 Jahre alt und erfolgreicher Youtuber in Russland. Ein hochgewachsener Typ mit Undercut, Kapuzenpulli, Iphone und zur Schau gestellter Coolness. Normalerweise bombardiert er Musiker, Intellektuelle und Politiker mit frechen Fragen. Doch im April überraschte er sein Publikum mit einer zweieinviertelstündigen Dokumentation über die Kolyma-Region. Es ist die Geschichte seines neuntägigen Road-Trips von Magadan nach Jakutsk, 2000 Kilometer. Der Film wurde bisher von mehr als 15 Millionen Zuschauern auf Youtube gesehen; es gibt eine Version mit englischen und deutschen Untertiteln. Juri Dud spricht mit Angehörigen von Gulag-Opfern, Historikern und einfachen Bürgern. Er fährt an die früheren Lager-Orte, stapft durch Schnee und Ruinen. Sichtbare Spuren sind wenige geblieben. Doch im kollektiven Gedächtnis der Nation lebt die Lagererfahrung fort.

Anlass für den Film sei die Angst gewesen, die vor allem in der älteren Generation zu spüren sei, sagt der Journalist. „Mein ganzes Leben höre ich von den Eltern: Sei vorsichtig, erreg’ nicht unnötig Aufmerksamkeit, lehn’ dich nicht aus dem Fenster – das ist sehr gefährlich.“ Seine Hypothese: Diese Angst rühre her aus der Stalinzeit. Diese Vergangenheit sei, wie er am Schluss sagen wird, noch immer gegenwärtig und „der Hauptfeind der Freiheit“ in Russland.

Laut einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums beurteilen 70 Prozent der Russen Stalins historische Rolle positiv. Vor einem Jahrzehnt waren es rund 40 Prozent. Heute wird Stalin vor allem als starker Staatsmann und erfolgreicher Kriegsherr wahrgenommen. Das hohe Rating des „Woschd“ sei ein Nebeneffekt der Geschichtspolitik der derzeitigen Behörden, die den Heldenmythos des Zweiten Weltkriegs zur Legitimierung ihres Machtanspruchs verwende, wie Soziologe Denis Wolkow, Mitarbeiter des Lewada-Zentrums, erklärt.

Antworten auf grundsätzliche Fragen

Was die Dokumentation besonders macht, ist ihre eigentümliche Mischung aus Oberflächlichkeit und Tiefenschärfe. Dud gelingt es, Antworten auf einfache, aber grundsätzliche Fragen zu geben. Warum gab es den Gulag? Wer kam da hin? Wie überlebte man ihn? Und: Wie halten Sie es persönlich mit Stalin?

Auf diese Frage erhält der Moskauer Journalist gegensätzliche Einschätzungen. Sie bilden Russlands Schwierigkeiten einer historischen Beurteilung des Diktators ab. „Tyrann der Tyrannen“, nennt ihn die Museumsleiterin Inna Gribanowa. Stalins Verbrechen seien offensichtlich, sagt ein Mann. „Wir sollten die guten Dinge nicht vergessen.“ Die wären? Er habe den Krieg angeführt und ihn gewonnen. „Ist das etwa kein Plus?“ Die Tochter eines früheren Lagerinsassen lobt Stalin für seine Disziplin. Wusste er, was in den Lagern passiert? „Freilich.“

Jutta Sommerbauer

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