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Panorama: Ehrenverbrechen all’italiana

Ehebruch – da schoss ein junger Italiener auf seine Schwester. Hat er auf eigene Faust gehandelt?

Messina, in der Nähe des Polizeipräsidiums. Auf offener Straße feuert ein junger Mann vier Schüsse in das Gesicht seiner Begleiterin und flieht. Die Frau ist 32 Jahre alt, Juristin, Praktikantin in einer Anwaltskanzlei. Bruna Morabito heißt sie, und als die Ermittler diesen Namen notieren, läuft es ihnen kalt den Rücken hinunter: Die Frau ist die Nichte eines der bedeutendsten Mafiabosse im gegenüberliegenden Kalabrien.

Doch die Angst, es könnte wieder einer jener blutigen Kriege zwischen rivalisierenden Clans aufgeflammt sein, zerstreut sich innerhalb weniger Stunden. Der Mörder – das spricht gegen ein Mafiaverbrechen – stellt sich.

Es ist Brunas Bruder, 24 Jahre alt, genannt Ringo. Der Polizei sagt er, er habe nur die „Ehre unseres Namens“ wiederhergestellt. Es sei gegen alle Moral, dass sich seine Schwester von ihrem Ehemann getrennt habe und ein Kind von einem anderen habe. Zwölf Tage alt ist jenes Baby am Tag des Anschlags, und als man Ringo fragt, warum er erst jetzt angegriffen habe, antwortet er mit einem anderen moralischen Gebot: „Auf Schwangere schießt man nicht.“

Die Gesellschaft, aus der die Geschwister Morabito kommen, ist archaisch und zugleich geschäftlich hoch entwickelt. Wer in die ’Ndrangheta eintritt, die kalabresische Mafia, lässt heute noch einen Tropfen Blut auf ein Heiligenbild fallen; das wird dann feierlich an einer Kerze verbrannt, und der Neue bindet sich in einem strengen, geradezu religiösen Treueeid an die „Familie“. Gleichzeitig haben die Morabito und andere ’Ndrangheta-Clans einen weit verzweigten Handel mit kolumbianischem Rauschgift aufgezogen. Sie beherrschen den Markt in Italien und mischen an vorderster Stelle in Europa mit. Ihr Jahresumsatz wird auf 35 Milliarden Euro geschätzt.

Kalabrien an Italiens Stiefelspitze ist unter den „Familien“ nach Orten und Regionen aufgeteilt. Knapp drei Viertel aller Unternehmer zahlen Schutzgeld an die ’Ndrangheta. In zahlreichen Gemeinden sind Kommunalverwaltung und Mafia miteinander eng verflochten; Staatsanwälte sagen sogar, die ’Ndrangheta sei dabei, sich an die Stelle des Staates zu setzen. Notfalls setzen die Clanchefs ihren Willen mit dem Revolver durch: So wurde im Oktober 2005 der Regionalpolitiker Francesco Fortugno erschossen. Er musste für die Reformen im Gesundheitswesen sterben. Der neue Regionalpräsident, Agazio Loiero, hatte die Führungsposten im staatlichen Gesundheitsdienst neu besetzt und dabei keine Rücksicht auf Kandidaten der Mafia genommen.

Andererseits hat der Mord an Fortugno so viel Widerstand in Kalabriens Bevölkerung erregt, dass Ermittler vorsichtig bereits von einer „Krise der ’Ndrangheta“ sprechen.

Für Verbrechen „aus Gründen der Ehre“ galten in Italien bis 1981 mildernde Umstände, die in der Praxis häufig Straflosigkeit zur Folge hatten. Ob die Schüsse auf Bruna Morabito allerdings heute noch einem solchen archaischen Ehrenkodex entsprechen, ist während der Vernehmungen fraglich geworden; selbst in der Mafia wandeln sich womöglich die Moralvorstellungen: Die Frau nämlich war mit ihrem neuen Freund offenbar mehrfach bei Eltern und Verwandten zu Besuch, ohne dass jemand an ihrem Lebenswandel Anstoß genommen hätte. Ihr Bruder hat demnach auf eigene Faust gehandelt.

Die Angeschossene hat den Anschlag überlebt, befindet sich aber in prekärer Verfassung.

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