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Panorama: Eine irische Affäre

Der oberste Gerichtshof hebt das Vergewaltigungsgesetz auf. Ein Kinderschänder kommt frei – und wird wenig später wieder verhaftet

Die Anrufer bei den nationalen Rundfunkprogrammen drohen mit Demonstrationen, Umsturz und Steuerstreik. Die Empörung der irischen Öffentlichkeit über die Schlamperei der Regierung ist groß. Denn vergangene Woche wurde ein 41-jähriger Mann vorzeitig aus der Haft entlassen, obwohl er gestanden hatte, die 12-jährige Freundin seiner Tochter vergewaltigt zu haben, nachdem er sie mit Alkohol geradezu betäubt hatte. Die Richterin am Obergericht, Mary Laffoy, hatte indessen keine Wahl: eine Woche zuvor hatte der irische Supreme Court jenes Gesetz für verfassungswidrig erklärt, aufgrund dessen der Täter verurteilt worden war.

Ein Dutzend weiterer Häftlinge, die sich sexuell an unter 15-jährigen Mädchen vergangen hatten, schickten sich an, ebenfalls aus ihren Zellen zu marschieren und aus dem nationalen Verzeichnis der Sexualverbrecher getilgt zu werden. Tausende Bürgerinnen und Bürger gingen am Freitag in Dublin und zahlreichen Provinzstädten mit weißen Blumen auf die Straße, um gegen diese Entwicklung zu protestieren.

Das Urteil des obersten Gerichtes betraf ein Gesetz aus dem Jahre 1935, das den Beischlaf mit einem Mädchen unter 15 automatisch als Vergewaltigung definiert. Der Tatbestand des „statutory rape“ kennt keine mildernden Umstände. Ein junger Mann, der als 18-Jähriger mit einem 14-jährigen Mädchen geschlafen hatte, wandte sich deswegen an den Supreme Court. Er versicherte glaubwürdig, das Mädchen habe ihn belogen und behauptet, 16 Jahre alt zu sein. Eine Gefängnisstrafe sei deshalb nicht verhältnismäßig. Das Gericht folgte diesem Argument. Die irische Verfassung von 1937 garantiert den Bürgern einen fairen Prozess, und dazu gehört das Recht, sich wirksam, das heißt mit vernünftigen Argumenten, zu verteidigen. Folglich erklärten die Richter das Gesetz für nichtig. Wer nun also eine Haftstrafe für den Beischlaf mit Minderjährigen verbüßt, wurde also auf der Grundlage eines nichtigen Gesetzes seiner Freiheit beraubt.

Die irischen Oppositionsparteien haben die Regierung im Allgemeinen und den Justizminister im Besonderen der monumentalen Inkompetenz bezichtigt. Dies nicht allein deshalb, weil Expertenkommissionen schon seit 1990 auf eine Reform dieser Gesetze drängen, sondern vor allem, weil Justizminister Michael McDowell offenbar nichts vom laufenden Verfahren vor dem Supreme Court wusste. Die Staatsanwaltschaft erwog ihrerseits nie, dass sie den Fall verlieren könnte. Rechtsexperten bestätigen zwar, dass ohnehin keine Gesetze mit rückwirkender Rechtskraft erlassen werden dürfen. Ferner gilt in Irland – im Gegensatz zu Großbritannien – noch immer der Grundsatz, dass niemand zweimal für dasselbe Vergehen vor Gericht gestellt werden kann (double jeopardy). Aber immerhin hätte die Regierung wenigstens für künftige Fälle Rechtssicherheit gewährleisten können. Kritiker rügten außerdem, dass die Staatsanwaltschaft sich bis vor wenigen Tagen mit Vorliebe auf das praktische Gesetz von 1935 stützte, weil es die Arbeit der Anklage erheblich erleichtert. Stattdessen hätten sich die Behörden in klaren Fällen auf den Straftatbestand der „normalen“ Vergewaltigung, der Notzucht oder der Nötigung berufen können.

Unmittelbar vor dem Pfingstwochenende wurde die Vertrauenskrise in Politik und Justiz fürs Erste entschärft: Das oberste Gericht ordnete überraschend an, der vorzeitig entlassene Vergewaltiger sei wieder zu verhaften. Er habe sich während seines eigenen Prozesses nicht darauf berufen, dass das Gesetz verfassungswidrig sei. Ebenso wenig habe er damals geltend gemacht, er habe sich über das Alter seines Opfers getäuscht. Das politisch opportune, aber juristisch wohl nicht ganz lupenreine Urteil wurde mit enormer Erleichterung aufgenommen.

Gleichzeitig verabschiedete das Parlament im Eilverfahren ein neues Gesetz, das allerdings neue Probleme schafft: So machen sich zwei 16-Jährige durch heftiges Knutschen strafbar, aber wenn sie bis zum Beischlaf weitermachen, ist nur der Junge strafbar. Irlands Politiker, die durch den öffentlichen Aufschrei der Empörung in völlige Panik versetzt worden sind, müssen sich früher oder später mit einer zeitgemäßen Reform des Jugend-Sexualstrafrechts beschäftigen. Die verständliche Härte gegen Pädophile bringt absurde Konsequenzen für Jugendliche. Aber die Politiker schrecken vor einer Senkung des Schutzalters zurück und überlassen das Dilemma lieber den Gerichten.

Martin Alioth[Dublin]

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