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Panorama: Eine Region im Schockzustand

GRENOBLE . Den Helfern am französischen Hochalpengipfel Pic de Bure bot sich gestern morgen ein grausiges Bild.

GRENOBLE . Den Helfern am französischen Hochalpengipfel Pic de Bure bot sich gestern morgen ein grausiges Bild. Kurz unterhalb des Gipfels lagen 20 Leichen weiträumig zerstreut, viele waren schrecklich entstellt. "Es sah aus wie nach einem Flugzeugabsturz", berichtete ein Sanitäter, der kurz nach 7 Uhr 30 am Unglücksort eintraf. Beim bisher schwersten Seilbahnunglück in Frankreich sind 20 Insassen getötet worden.

Sofort begannen Spekulationen darüber, ob die Sicherheitsvorschriften für die private Seilbahn vielleicht allzu lax gehandhabt wurden. Der genaue Hergang des Unfalls bei Saint-Etienne-en-Dévoluy bei Grenoble war zunächst unklar. Wie jeden Morgen hatten sich 20 Fachleute, die im deutsch-französischen Himmels-Observatorium auf dem Pic de Bure arbeiten, mit der Seilbahn auf den Weg zur Arbeit gemacht. Kurz vor dem Gipfel muß die Kabine aus dem Tragseil gesprungen sein. Sie stürzte 80 Meter in die Tiefe und zerschellte auf dem Boden. Die Opfer, darunter fünf Mitarbeiter des Observatoriums, vier Fernmeldetechniker und mehrere Angestellte eines Bauunternehmens, hatten keine Überlebenschance.

Die Seilbahn dient ausschließlich Mitarbeitern und Besuchern des Observatoriums sowie der Versorgung der Einrichtung. Die Öffentlichkeit hat keinen Zutritt. Unter den Toten waren keine Deutschen und keine Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft, die an dem renommierten Observatorium beteiligt ist.

Als Unglücksursache wird Materialermüdung vermutet. Allerdings war die 1981 errichtete private Seilbahn erst vor einem Jahr inspiziert worden. Bei der Generalüberholung waren alle Verschleißteile genauestens untersucht worden, hieß es gestern in Grenoble. "Frankreich hat die striktesten Kontrollen der Welt", erklärte Jean-Charles Simiand vom Verband französischer Seilbahnbetreiber. Die Staatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung ein.

In dem 500-Seelen-Ort Saint-Etienne-en-Dévoluy löste das Unglück einen Schock aus. Fast alle Dorfbewohner kannten die Arbeiter und Astronomen, die auf "ihrem" Hausberg nach den Sternen greifen. "Die Opfer sind zum größten Teil von hier, viele sind gute Freunde", erklärte Bürgermeister Jean-Marie Bernard. Das Himmels-Observatorium, das vom französischen Forschungszentrum CNRS mitbetrieben wird, ernähre seit 20 Jahren mehrere Familien in dem kleinen Wintersportort.

"Ich bin Bürgermeister eines Dorfes mit 500 Einwohnern, und jetzt gibt es 20 Tote. Leute, die hier gearbeitet haben und die nun tot sind", sagte Bernard sichtlich unter Schock. In der Kirche des Ortes wurde ein Raum hergerichtet, in dem die Toten aufgebahrt werden sollten. Fachleute leisteten den Angehörigen der Opfer, aber auch Dorfbewohnern, psychologische Hilfe. Die meisten konnten das Unglück auch nach Stunden noch nicht fassen: Zu sehr gehörte die Seilbahn zu ihrem Alltag.

"Sie erleben hier eine Region im Schockzustand", sagte der Direktor des Fremdenverkehrsbüros des kleinen Skiorts, Yvan Chaix. "Dieser Unfall kam für uns total überraschend, weil diese Seilbahn tagtäglich benutzt wurde. Wir kennen die meisten der Opfer; sie haben im Dorf oder in der Gemeinde gewohnt."

Die Seilbahn bediente die etwa zwei Kilometer lange Stecke zwischen einer etwa 1400 Meter hoch gelegenen Ebene und der Sternwarte auf einem Plateau unterhalb des 2712 Meter hohen Pic de Bure. Die Fahrt dauerte etwa 20 Minuten.

Über die Unglücksursache wurde zunächst nur spekuliert. Hieß es am Anfang, das Stahlseil sei möglicherweise gerissen, war später die Rede davon, daß sich die Gondel vom Kabel gelöst habe. Der zuständige Präfekt Remi Caron erklärte, die Ermittlungen würden so rasch wie möglich eingeleitet.

Seilbahnverband-Sprecher Simiand wies Spekulationen zurück, daß für Seilbahnen, die nicht öffentlich genutzt würden, weniger strenge Sicherheitsvorschriften gelten würden. "Die Regeln sind drakonisch", erklärte er. "Deshalb gilt die Seilbahn auch als eines der sichersten Verkehrsmittel."

Bisher ist in den Alpen erst einmal ein Tragseil gerissen: In Cavalese hatte 1972 eine Notbremsung zu einem Seilüberschlag geführt. Entgegen allen Vorschriften fuhr der Betriebsleiter die Bahn trotzdem wieder an, die übereinanderliegenden Seile rissen sich gegenseitig auf, und 42 Menschen stürzten mit der Kabine in den Tod. Außerdem zerfetzten Militärflugzeuge 1961 am Montblanc und im Februar 1998 in Cavalese Bergbahn-Seile, sechs beziehungsweise 20 Menschen starben.

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