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Panorama: Eine Stadt will keinen Mörder

Am 1. März beginnt der Prozess gegen Kinderschänder Marc Dutroux – an einem wenig bekannten Ort in Belgien

Thierry G. hat einen Nachbarn, den er am liebsten zum Teufel jagen würde. Wenn er aus dem Küchenfenster über seinen schmalen Garten und den Baum mit der Kinderschaukel hinwegschaut, sieht er das Gefängnis von Arlon. Ein festungsartiger Klotz, der mitten in eine Häuserzeile hineingebaut ist. Es ist nicht irgendeine Haftanstalt: In Arlon sitzt seit fast acht Jahren Belgiens meistgehasster Verbrecher ein, der mutmaßliche Kinderschänder und Mörder Marc Dutroux. Am 1. März beginnt in der südbelgischen Kleinstadt der Prozess gegen ihn und drei mutmaßliche Komplizen. Dem 47-Jährigen droht lebenslange Haft.

Nicht genug, findet Thierry. „Ich wüsste, was ich mit ihm tun würde", bricht es aus ihm heraus. Er hebt die Arme, als würde er ein Gewehr abfeuern: „Paff." „Ich bin kein Extremist", versichert Thierry eilig. Er ist Vater von zwei neun und elf Jahre alten Töchtern. Nur wenig jünger waren die beiden achtjährigen Mädchen Julie und Melissa, die Dutroux im Sommer 1995 entführte, monatelang in einem dunklen, muffigen Kellerverließ gefangen hielt, brutal missbrauchte und deren abgemagerte Leichen ein Jahr später unter einer Betonplatte in seinem Garten gefunden wurden.

Sauberste Stadt Walloniens

Im Laufe eines Jahres gelang es dem arbeitslosen Elektriker, sechs Mädchen in seine Gewalt zu bringen: Julie und Melissa, An und Eefje, Sabine und Laetitia. Sabine und Laetitia konnten lebend gerettet werden, die vier anderen überlebten die Torturen nicht. Wegen schwerer Ermittlungspannen kam die Polizei Dutroux lange nicht auf die Spur, obwohl er wegen mehrfacher Kindesentführung und Vergewaltigung vorbestraft war.

Dutroux hat nicht nur friedliche Familienväter wie Thierry G. verändert. Seitdem Mitte August 1996 die Leichen von Julie und Melissa gefunden wurden, ist auch in Arlon nichts mehr, wie es war. „Die Eltern achten mehr auf die Sicherheit ihrer Kinder. Sie bringen sie mit dem Auto zur Schule und holen sie auch wieder ab", sagt Schuldirektorin Ginette Riez. Auf ihr Athénée Royal gehen 1500 Schüler zwischen sechs und 18 Jahren. Auch die Kinder beschäftigen sich mit dem Thema. Im vergangenen Jahr informierten bei einer Projektwoche 18-Jährige ihre jüngeren Mitschüler über das Thema Missbrauch. Der bevorstehende Prozess spielt aber nach den Worten der 50-jährigen Direktorin in der Schule keine Rolle. „Das ist keine Sache, über die man in Arlon spricht", sagt sie.

Arlon ist das, was man im zweieinhalb Autostunden entfernten Brüssel eine Schlafstadt nennt. Kaum ein Mensch kennt diesen Ort. Es ist ein Ort, der keinerlei internationalen Ruf hat, den er verlieren könnte. Von den knapp 25000 Einwohnern pendelt ein großer Teil zur Arbeit ins benachbarte Großherzogtum Luxemburg, nur wenige arbeiten dagegen im 30 Kilometer entfernten Trier. In der Innenstadt rund um den Großen Markt verlaufen sich tagsüber ein paar Menschen. Um von der Stille abzulenken, beschallen die Geschäftsleute die Einkaufsstraßen mit den Beatles und Yves Montand. Mit der Ruhe wird es allerdings bald vorbei sein: Für das Verfahren haben sich 1200 Journalisten aus aller Welt akkreditiert. Die Anwälte der Opfer und der Verteidigung wollen 600 Zeugen aufbieten. Das macht einen Prozessteilnehmer auf 14 Einwohner. Zudem will Brüssel eine Hundertschaft zusätzlicher Polizisten entsenden, um für Sicherheit zu sorgen.

„Arlon hat diesen Prozess nicht gewollt", sagt Tourismusstadtrat Henri Bosseler. „Und seien Sie versichert, dass wir daraus keinen Profit schlagen werden. Das ist eine Frage der Würde", betont der 66-Jährige. Gerüchten zufolge hat ein belgischer Fernsehsender 25000 Euro für ein Apartment geboten, um über den Prozess berichten zu können. Die 55 Hotelzimmer am Ort sind schon seit Monaten ausgebucht. Arlon hat sehr wohl einen Ruf zu verlieren, betont Bosseler. Gerade erst hat die belgische Stiftung Warentest den Ort zur saubersten Stadt der französischsprachigen Provinz Wallonien gekürt. Zwar verdankt Arlon dies dem Kampf gegen Hundehaufen und aufplatzende Müllsäcke, aber Bosseler will diesen Rang auch in moralischer Hinsicht erhalten. „Arlon hat mit diesem Prozess nichts zu tun", beharrt er.

In gewisser Hinsicht hat er Recht. Dass das Verfahren hier stattfindet, ist vielleicht Zufall, vielleicht auch nicht. Die Ermittlungen konzentrierten sich ab August 1996 im nahe gelegenen Neufchâteau, wo Dutroux die 15-jährige Laetitia entführte, sein letztes Opfer. Arlon als Hauptstadt der belgischen Provinz Luxemburg hat mit Abstand den größten Gerichtssaal in der Umgebung. Ein Saal, in den allerdings auch mit viel gutem Willen nur rund 100 Menschen passen. Böse Zungen sagen, es sei den Brüsseler Behörden gerade Recht, dass das Strafverfahren in der Abgeschiedenheit dieses Ortes stattfinde.

Nicht gewollt

„Die Leute wollen, dass es so schnell wie möglich vorbei ist", sagt Jean-Marie Jadot. Der 55-Jährige ist seit zwölf Jahren geistliches Oberhaupt der katholischen Sankt-Martins-Gemeinde, mit 1200 Mitgliedern die größte der Stadt. Mit seinen Gläubigen spricht Jadot über Dutroux nur „in aller Zurückhaltung". Eine enorme Herausforderung: Wie erklärt er Vätern wie Thierry G., dass auch ein Kinderschänder und Mörder die Gnade Gottes verdient? „In einem solchen Fall fällt die Vergebung sehr schwer", sagt Jadot. Vor allem aber, sagt der Priester, kämpfen die Menschen in Arlon wie alle Belgier seit der Enthüllung der Dutroux-Affäre mit ihrem Misstrauen gegen Polizei und belgische Behörden. Bis heute ist nicht geklärt, ob Dutroux Zuhälter für einen Kinderschänder-Ring war. Der belgische König ließ unlängst sogar ein Buch französischer Autoren verbieten, die ihm die Teilnahme an Sexparties mit Minderjährigen unterstellten. „Die Affäre hat die moralische Schwäche der belgischen Gesellschaft enthüllt", sagt Jadot.

Wer die Jugendlichen befragt, die Arlon nach Schulschluss am frühen Nachmittag zu Hunderten für kurze Zeit beleben, stößt vorwiegend auf Schweigen. „In der Schule sprechen wir nicht darüber", sagt eine 14-Jährige. Und zu Hause? Verlegenes Schulterzucken. Bürgermeister Guy Larcier, der wegen „Terminüberlastung“ für Medienanfragen unerreichbar ist, hat für das Rathaus ein Sprechverbot verhängt.

Die Vorsitzende des Elternvereins des Athénée Royal, Christine Gondon, glaubt: „Wenn die Medien nicht über den Fall Dutroux berichten würden, hätten die Kinder auch nicht so viel Angst." Dem stimmt auch Jugendstadträtin Brigitte Debry zu: „Arlon ist eine ruhige Stadt", sagt sie entschlossen. „Und der Prozess wird das nicht ändern."

Stephanie Lob[Arlon]

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