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Panorama: „Es ging um das Leben des Jungen“

Der Philosoph Oswald Schwemmer über ethische Abwägungen

Drei Dinge sind meiner Meinung nach im Falle Jakob von Metzler zu bedenken:

(1) Die Androhung von Gewalt war nicht Teil der gerichtlichen Wahrheitsfindung, sondern diente – so verstehe ich den Bericht – ausschließlich der Suche nach dem Aufenthaltsort des entführten Jungen. Ich sehe sie daher als Teil des Versuches, das Leben des Jungen zu retten. Diese Suche stand unter Zeitdruck. Sollte sie erfolgreich sein, so musste man wohl – auch hier beziehe ich mich auf das, was berichtet worden ist – auch auf den Entführer Druck ausüben. Hätte man dies unterlassen, wäre auch das eine Entscheidung gewesen, die man hätte rechtfertigen müssen: Wie wäre eine solche Rechtfertigung angesichts der unmittelbar drohenden Todesgefahr ausgefallen? Hätte es sie überhaupt gegeben? Ich denke: nein. Eine Frage ist es dagegen, ob der in meinen Augen notwendige Druck auf den Entführer durch die Androhung physischer Gewalt ausgeübt werden mußte. Das kann ich nicht beurteilen. Aber offensichtlich versprach ein an das menschliche Empfinden des Entführers gerichtetes Zureden in dieser Situation keinen Erfolg – jedenfalls keinen kurzfristigen, auf den es aber ankam. Was auf jeden Fall festgehalten werden sollte, ist, dass es bei der Androhung von Gewalt nicht um ein Verhör im Rahmen gerichtlicher Untersuchung ging, sondern um eine klar umrissene Handlung zur Rettung eines Lebens. Die Androhung von Gewalt in einem gerichtlichen Verfahren halte auch ich für in jedem Falle ausgeschlossen. Hier geht es aber um etwas anderes, um den Versuch, ein Leben zu retten. Und dabei gelten, wie bei dem in mancher Hinsicht ähnlichen Fall der Notwehr, andere Maßstäbe.

(2) Bei der Beurteilung von Einzelfällen zeigt sich immer wieder die Unvollständigkeit gesetzlicher Regelungen. Schon Aristoteles machte darauf aufmerksam, dass es Situationen gäbe, in denen „eine Berichtigung des Gesetzes" angebracht oder sogar notwendig sei, wenn es diesen Einzelfall aufgrund seiner Allgemeinheit nicht treffe. Aristoteles nannte die Befähigung zu einer solchen Ausnahmeentscheidung „Epikie", von einem Kommentator als „Güte in der Gerechtigkeit" übersetzt. Auch wir unterscheiden zwischen dem Sinn und dem Buchstaben eines Gesetzes. Und selbstverständlich kann eine Ausnahme nur gegenüber dem Buchstaben des Gesetzes begründet werden und nicht gegenüber seinem vom Gesetzgeber gemeinten Sinn. Aber auch bei der Berufung auf die aristotelische Epikie ist zu sehen, dass der hier zur Diskussion stehende Fall nicht Teil eines Gerichtsverfahrens ist, sondern eine Handlung in einem anderen Zusammenhang. Gewaltanwendung – und auch schon ihre Androhung – nicht nur gegenüber Menschen ist, so die allgemeine Einsicht, verboten. Aber was, wenn sie notwendig ist, um eine noch schlimmere Gewalttätigkeit oder die noch schlimmeren Folgen einer Gewalttat zu verhindern?

(3) Am Ende ist – und auch dies liegt in der Logik der Rede von einer Epikie – der Einzelfall zu betrachten. Und ich hoffe, dass auch diesem Einzelfall Rechnung getragen wird. Die prinzipienstrengen Allgemeinaussagen – dass Gewaltandrohung durch nichts gerechtfertigt werden könne – halte ich für prozessstrategische Äußerungen. Sie sind zu schnell mit der Schwierigkeit der konkreten Situation fertig – und bringen sie zudem unter die Maßstäbe eines Gerichtsverfahrens, die hier nicht angemessen sind.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin.

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