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Machtvolles Statement. Die Esten haben ihrer langen Geschichte mit dem Neubau des Nationalmuseums auf einer ehemaligen Militärbasis ein Denkmal gesetzt.

© Ints Kalnins/Reuters

Estland: Das Nationalmuseum steht auf der Landebahn

Estlands Nationalmuseum steht nicht in der Hauptstadt, sondern auf einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis. Der Standort verweist auf das Leitmotiv: Befreiung.

Ein Nationalmuseum gehört in jedem Land in die Hauptstadt – sollte man meinen. In Estland, diesem nördlichsten der drei baltischen Staaten, ist das anders. Das Estnische Nationalmuseum befindet sich in der zweitgrößten, weit im Süden des Landes gelegenen Stadt Tartu, dem früheren Dorpat, und auch nicht eigentlich in, sondern am Rande der alten Universitätsstadt auf dem Gelände eines ehemaligen sowjetischen Militärflugplatzes, der einst streng abgeschirmt war. So verweist schon die Wahl des Standorts auf das Leitmotiv „Befreiung“.

Das wird in der Großform des Gebäudes noch verstärkt: ein langer Keil von 355 Metern Länge und 70 Metern Breite, der aus einer schier endlosen Startbahn bis auf 15 Meter lichte Höhe ansteigt und sich zu einem keilförmigen Eingang unter weit überstehendem Dach öffnet. Es scheint, als würde sich die Rollbahn in die Höhe heben und unter sich das Museum zur Besichtigung freigeben.

So ähnlich hat es das in Paris ansässige Architektentrio Dorell Ghotmeh Tane (DGT) formuliert, das den Wettbewerb von 2006 gewann und unter mancherlei Schwierigkeiten den alles in allem 75 Millionen Euro teuren Neubau errichten konnte. Im Oktober vergangenen Jahres wurde er eröffnet. Noch immer ist nicht alles fertig. Vor allem die Landschaftsgestaltung, zu der ein Gewässer zählt, das das Gebäude brückenartig überquert, harrt noch der Vollendung in diesem Sommer. Doch schon konnte der 200 000. Besucher begrüßt werden, in einem Land, das gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner zählt – die alle erst einmal hinfahren müssen. Tartu ist knapp 190 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

Es geht um Ethnografie

Die Anfänge des Nationalmuseums liegen vor gut 100 Jahren, noch bevor Estland 1918 erstmals seine staatliche Unabhängigkeit errang – nebenbei das große Jubiläum des kommenden Jahres. Dazu gehört einfach ein Nationalmuseum!

Hauptsächlich ging es viele Jahrzehnte um Ethnografie, und sie bestimmt im Grunde bis heute das Museum und seine 130 000 Objekte umfassende Sammlung. Betrachtet wird vorrangig die Geschichte „der“ Esten, die die Geschichte vieler miteinander verwandter Volksstämme ist, die sich hier seit der Steinzeit zunächst an den Gestaden der Ostsee niederließen. Woher kommen wir, wer sind wir? Diese klassischen Fragen, denen im Zeitalter der Globalisierung zunehmend ein reaktionärer Beiklang anhaftet, sucht das Museum zu beantworten.

Die Dauerausstellung „Das Echo des Urals“ stellt die Traditionen und das Alltagsleben der finno-ugrischen Völker in ihrem von der Tundra bis zur Steppe reichenden, ursprünglichen Umfeld dar. Die Objekte stammen nicht zuletzt aus den Expeditionen, die das damalige Russische Reich ab Ende des 19. Jahrhunderts ins Innere des riesigen Landes unternehmen ließ, gerade als die anbrechende Moderne die uralten Volkskulturen in ihrem Bestand zu gefährden begann.

Ethnografisch sind auch die Sammlungen zur Alltagskultur der Esten. Die Zeitleiste, die das Museum vom Eingang bis zu seinem nur mehr mannshohen Hinterausgang hinaus aufs Rollfeld durchzieht, beginnt nicht mit der grauen Vorzeit, sondern im Hier und Jetzt. Das heißt in Estland: im digitalisierten Alltag. Jeder Besucher erhält eine Art Kreditkarte, mit der kontaktlos die rund 800 Bildschirme bedient werden können, die alle vertiefenden Informationen zu den Objekten bereitstellen, aber auch Fragen und Mitmach-Spiele für jüngere und jüngste Besucher. 100 große Bildschirme liefern Videos, ja ganze Spielfilmsequenzen.

Schon die Zeit der sowjetischen Besatzung – als die das halbe Jahrhundert als Teil der Sowjetunion gesehen wird – ist da ferne Vergangenheit. Da entspannen sich oppositionelle Gespräche verdeckt anhand estnischer Übersetzungen internationaler Literatur – veranschaulicht durch eine Bücherwand mit Romanen etwa von Pasternak. Manch einer bastelte sich seinen Rasenmäher aus allerlei Maschinenteilen. Radios und später Fernsehgeräte kamen aus russischer Produktion, aber im Norden Estlands rund um Tallinn konnte man das finnische (West-)Fernsehen empfangen und verstehen.

Wohnzimmereinrichtungen spiegeln den beginnenden Wohlstand seit der Chruschtschow-Zeit, aber eben auch die Eigenständigkeit eines eher skandinavisch beeinflussten Lebensstils. Überreich wie in so vielen Museen, die hierzulande früher „Volkskundemuseen“ genannt wurden, sind die Bestände an regionalen Trachten und Kostümen, an Arbeitsgeräten und Kultobjekten der ländlichen Bevölkerung und ihres vom Kreislauf der Natur bestimmten Lebens.

Wenn im „heutigen“ Teil der Ausstellung auf Flüchtlinge und Migration eingegangen wird, liegt der Bezug zur eigenen Geschichte nahe: zur Deportation zehntausender Esten in den frühen Jahren der Sowjetherrschaft und der Rückkehr der Überlebenden aus dem sibirischen Gulag. Wenn völkerverbindende Gemeinschaft nachgefragt wird, so weist die Ausstellung auf den „Baltischen Weg“, die 600 Kilometer lange Menschenkette, die zwei Millionen Esten, Letten und Litauer am 23. August 1989 von Tallinn bis Vilnius bildeten, um an den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes zu erinnern. Mit dem „Baltischen Weg“ begann die Unabhängigkeit im Jahr 1991.

Die russischstämmigen Bürger sind im Museum nicht eigentlich präsent. Gewiss, sie kamen erst nach der Eingliederung Estlands in die Sowjetunion, stark forciert mit der Industrialisierung des nördlichen Küstensaums. Nahe der russischen Grenze beträgt der Anteil ethnischer Russen bis zu 95 Prozent. Die sollen wieder gehen, war nach der Unabhängigkeit 1991 die Meinung vieler Esten und ihrer politischen Parteien. Diese Phase ist vorbei, und offiziell wird die Existenz einer Parallelgesellschaft bestritten. Doch wenn das Nationalmuseum selbst davon spricht, es habe sich stets eine „machtvolle Präsenz im kollektiven Bewusstsein der im wesentlichen anti-sowjetischen Gedächtnis der Esten bewahrt“, dann wird deutlich, dass eine Antwort auf die dritte der klassischen Fragen – Wohin gehen wir? – noch nicht wirklich gefunden ist.

Das Architektentrio übrigens besteht aus einem Israeli mit italienischer Mutter, Dan Dorell, der aus Beirut stammenden Libanesin Lina Ghotmeh und dem in Tokio und Kopenhagen ausgebildeten Japaner Tsuyoshi Tane. Zusammengefunden haben sich die Drei in London, ihr Büro eröffneten sie in Paris. So viel zur „Estnisch-keit“ ihres Museumsentwurfs.

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