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Fall Morsal O.: "Ehre, was ist das? Ich kenne keine Ehre"

Sie wollte wie eine Deutsche leben – deshalb hat der Bruder Morsal O. ermordet, sagen die Richter.

Der Angeklagte tobt, im Zuschauerraum fließen Tränen, Angehörige schimpfen und schreien: Das Hamburger Landgericht hat am Freitag den 24-jährigen Ahmad-Sobair O. wegen Mordes an seiner jüngeren Schwester Morsal zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung sprach der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen ausdrücklich vom Tatmotiv der verletzten Ehre. Insgesamt 23 Mal hatte der Deutsch-Afghane am 15. Mai des Vorjahres auf die 16-Jährige eingestochen, woraufhin sie am Tatort verblutete. Im Urteil heißt es, "er tötete seine Schwester, weil sie nicht nach den für Frauen sehr strengen Regeln afghanischer Traditionen leben wollte, sondern wie ein deutsches Mädchen".

In Handfesseln wurde der Angeklagte in den Gerichtssaal geführt. Er setzte sich zwischen seine beiden Verteidiger und suchte immer wieder den Blickkontakt ins Saalpublikum. Dort saßen in der ersten und zweiten Reihe hinter einer Panzerglasscheibe seine Eltern, andere Verwandte, Bekannte und seine Freundin. Als Backen seinen ersten Satz zu Ende gesprochen hatte, reagierte Ahmad-Sobairs Freundin mit hysterischen Schreikrämpfen. Dramatische Szenen folgten. Die Mutter wollte sich spontan aus einem Fenster des Gerichtsflurs stürzen. Diese lassen sich aber nicht von innen öffnen. Vor dem Landgericht waren inzwischen Krankenwagen vorgefahren. Einzelne Journalisten wurden aus dem Umfeld der Familie O. beschimpft. Die Mutter des Angeklagten wurde angesichts von Blitzlichtgewitter sogar handgreiflich.

Während der Vorsitzende der 21. Großen Strafkammer sein Urteil verlas, kommentierte Ahmad-Sobair O. einige Passagen wutentbrannt. Als Gerichtsbedienstete den wild um sich rufenden und gegen die Sicherheitsscheibe trommelnden jüngeren Bruder des Angeklagten aus dem Sitzungssaal führten, beleidigte Ahmad-Sobair die Beamten. Backen entgegnete er: "Ehre, was ist das? Ich kenne keine Ehre", als dieser wiederholt die Frage der verletzten Ehre als Triebfeder für das Handeln des Angeklagten anführte. Auf Backens Einlassung, in seiner Geburtsstadt Kabul würde man die Tat genauso verwerflich bewerten, rief der Angeklagte, dort wäre er schon "längst draußen". Nachdem der Richter zum Ende gekommen war, wischte der gerade Verurteilte mit einer Handbewegung einen Aktenstapel vom Tisch.

Im Prozess hatte der 24-Jährige geschwiegen. Im Schlusswort betonte er lediglich, er wollte seine Schwester nicht umbringen, das, was passiert sei, tue ihm leid. Seine Anwälte hatten auf eine Verurteilung unter dem Totschlagsaspekt plädiert und eine Einweisung in die Psychiatrie empfohlen. Sie stützten sich auf die Aussagen einer vom Gericht bestellten Sachverständigen, die dem von den Behörden als Intensivtäter eingestuften jungen Mann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestierte und die Tat als Affekthandlung ansah.

Das Gericht folgte stattdessen den Ausführungen der Staatsanwaltschaft, die "lebenslang" gefordert hatte, weil bei der Bluttat Heimtücke und niedrige Beweggründe ausschlaggebend gewesen seien. Ausdrücklich ging das Gericht in seiner Begründung von einem Tatvorsatz aus. "Es war eine Tötung aus reiner Intoleranz." Mehrfach hatte der Angeklagte, so die Aussagen von Zeugen, seiner Schwester den Tod im Vorweg angedroht. Ein Cousin hatte Morsal O. kurz vor Mitternacht unter einem Vorwand auf einen dunklen, abseits gelegenen Parkplatz gelockt. Dort konfrontierte ihr Bruder sie mit dem Vorwurf, sie würde sich prostituieren, worauf sie antwortete, das gehe ihn "einen Scheißdreck an". Dann folgte die Messerattacke. Zweimal flüchtete sie noch trotz erster Stichverletzungen vor ihrem Peiniger, ehe er sich über das am Boden liegende Mädchen kniete und weiter auf sie einstach. Anwalt Thomas Bliwier kündigte Revision an.

Die Staatsanwaltschaft hat auch gegen den Vater von Morsal O. Anklage erhoben. Er muss sich wegen Misshandlung Schutzbefohlener verantworten. Er soll seine Tochter misshandelt, einmal sogar vor den Augen von Polizeibeamten geschlagen haben. Das Gericht sprach in seinem Urteil davon, dass die Eltern "eine hohe moralische Mitschuld" treffe.

Dieter Hanisch[Hamburg]

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