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Perspektivwechsel. Das Elternhaus ist der Ort, an dem man immer klein sein wird – selbst wenn man längst groß ist.

© Mauritius Images

Familienleben: Zurück ins Hotel Mama

Sie war längst ausgezogen. Dann quartierte sich unsere Autorin wieder bei ihren Eltern ein. Ein Experiment.

Den Sommer verbrachte ich, statt mit einem guten Roman am See, in einer fast leer geräumten Wohnung vor dem Laptop und klickte mich durch WG-Anzeigen. Die Hausverwaltung hatte das Gebäude, in dem meine ehemalige WG zu Hause war, verkauft. Zum Auszugstermin hatte ich es immer noch nicht geschafft, die Summe meines sozialen und monetären Kapitals in neue Quadratmeter einzutauschen.

Die perfekte WG-Anzeige fand ich nicht im Internet, sondern in meinem Briefkasten: Dachgeschoss. Terrasse. Gartennutzung. Miete: null Euro. Die Mitbewohner hatten eine beachtliche Vinylsammlung, eine ähnliche Verachtung für Ruhezeiten wie ich und immer Gras im Haus. Der eine schmiss sonntags das ganze Haus mit 90 Dezibel Jimi Hendrix aus dem Bett. Die andere brauchte ewig im Bad und hatte einen Schuhtick. Doch ich war mir sicher: Wir würden uns gut verstehen. Ich hatte schließlich 20 Jahre Erfahrung darin, mit ihnen zu wohnen. Die Anzeige hatten mir meine Mama und mein Stiefvater gebastelt – aus Zeitungsbuchstaben, wie eine Lösegeldforderung.

Drei Jahre zuvor war ich ausgezogen. Viel war seitdem passiert: ein Auslandsjahr und meine erste Steuererklärung. Ich war fast mit dem Studium fertig. Ich verdiente Geld, nicht viel, aber immerhin. Würde ich wieder zu Hause einziehen, dachte ich, wäre es kein Eltern-Kind-Haushalt mehr, sondern drei erwachsene Menschen mit Schnittmengen an Weltansichten, Musikgeschmack und Erbgut unter einem Dach. Klar, ein Wiedereinzug bei den Eltern war alles andere als cool und Ulm das komplette Gegenteil von Berlin. Trotzdem: Die Sache war entschieden.

Tag 1
Zum ersten Mal seit dem Abi stehe ich nicht mit einem Übernachtungskoffer, sondern mit einem Umzugswagen vor der elterlichen Tür. Ich würde gern in mein altes Zimmer ziehen, aber dort wohnen inzwischen der Computer und Mamas Nähmaschine. Mein Stiefvater schleppt meinen Kram auf den ausgebauten Dachboden. Die schräge Decke ist gemütlich. Aber so niedrig, dass wir die Köpfe gesenkt halten müssen. Deshalb sieht mein Empfang aus wie eine Trauerzeremonie.

„Willkommen zu Hause“, sagt Mama. Wir trinken Sekt und rauchen eine Zigarette, wobei ich gegen das Gefühl kämpfen muss, sie hinter meinem Rücken verstecken zu wollen. Es ist die erste Kippe, die ich vor ihren Augen rauche, und höchstens die zehnte in meinem ganzen Leben. Zigaretten schmecken mir nicht. Aber ich paffe brav zu Ende, damit die Verhältnisse klar sind. Drei ebenbürtige Erwachsene frönen offen ihren Lastern, jawohl!

Tag 2
Das Zusammenleben ist super, weil es noch kein Zusammenleben ist. Ich wohne zwar unter ihrem Dach, aber ich bin auch Gast. Gehe ich weg, stecken meine Eltern mir einen Zehner zu. Sie fragen nicht: Wohin? Sondern: Sollen wir dich fahren? Ich bin die Sonne, um die das Familienuniversum rotiert. Es ist wunderbar.

Tag 3
Ich wache mit schlechter Laune auf. Jetzt wäre es an der Zeit, mit anderthalb Kilogramm zu viel auf den Rippen und einem Doggybag in die Selbstständigkeit entlassen zu werden. Aber ich bleibe.

Das ist nicht dein Ernst!

Nestwochen. Wlada Kolosowa lernte ihre Eltern während des Experiments von einer neuen Seite kennen.
Nestwochen. Wlada Kolosowa lernte ihre Eltern während des Experiments von einer neuen Seite kennen.

© promo

Tag 11
„Das ist nicht dein Ernst!“, schreie ich und wedele mit dem Gurkenstummel in der Hand. Mein Stiefvater lacht. „Was ist bei euch los?“, fragt meine Mutter aus der Küche. „Deine Tochter ...“, gluckst mein Stiefvater, „hat versehentlich unsere Gurken-Bong gegessen!“ Ich spucke Galle und Gurkenstückchen. Und bin wütend. Bei meinen Freunden war das so: Irgendwann hatten Kinder einen Wissensvorsprung in Bereichen, von denen Eltern keine Ahnung hatten. Post-Dubstep, Suchmaschinenoptimierung, illegale Drogen. Manches davon war auch für die Eltern nützlich. Idealerweise wird man ein Team mit komplementären Stärken: Eltern kennen sich besser mit Zahnzusatzversicherungen aus, Kinder mit Smartphones.

Bei mir war das anders, denn meine Eltern sind jünger als die meiner Freunde. Ich konnte nicht mit Geschichten über panische Anrufe aufwarten, weil meine Eltern „das Internet gelöscht“ hatten. Meine Mama installierte Skype auf meinem Computer, schickte mir Links zu Modeblogs. Mein Stiefvater wusste vor mir, wenn ein neues i-Dingens auf den Markt kam. Mir fehlte ein Bereich, in dem ich ein Experte sein konnte: Anders als meine Freunde für ihre Ü-50-Eltern war ich für meine kein Botschafter aus der abgefahrenen Welt der Jugend. Wir lebten in derselben. Und seit ich wieder zu Hause wohne, habe ich das Gefühl, dass meine Eltern besser in dieser Welt zurechtkommen als ich.

Tag 17
„Kann ich mir deine Pumps ausleihen?“, ruft Mama aus dem Flur. „Muss das sein?“, rufe ich vom Dachboden zurück, „dieser Klamottenkommunismus nervt mich inzwischen.“ „Früher hast du damit auch kein Problem gehabt.“ „Man wird eben erwachsen.“ Ich war immer stolz gewesen auf meine junge Mutter. Doch seit ich wieder zu Hause wohne, macht es mich rasend, wenn man uns für Schwestern oder Freundinnen hält.

Entwicklungspsychologen beschreiben die Beziehung erwachsener Kinder zur ihren Eltern mit dem Individualisierungsansatz. Einerseits ist die Beziehung stabil und unser Leben lang wichtig – auch wenn sie mal mehr, mal weniger nah ist. Damit aus uns Kindern aber Erwachsene werden, müssen wir uns andererseits von den Eltern abgrenzen. Dazu gehört, dass wir sie entidealisieren. Aus der kindlich einseitigen Beziehung soll eine partnerschaftliche, symmetrische werden. Der Abgrenzungsprozess hängt vor allem von biografischen Übergängen wie dem Berufseinstieg ab – oder eben dem Auszug.

Tag 36
„Würde es dir etwas ausmachen, die Tassenspuren vom Tisch zu wischen?“, sagt meine Mutter. „Es würde mir nichts ausmachen“, sage ich und lese seelenruhig weiter ein Magazin. Ich verstehe: Egal wie viele Abschlüsse ich habe, wie alt ich bin und wie alt meine Eltern sind – für sie werde ich immer ein Kind bleiben. Es ist ein Naturgesetz. Eltern werden immer Elterndinge tun. Vor allem, wenn wir unter ihrem Dach sind. Außerhalb ihrer Homebase mögen sie ein wenig niedlich und hilflos scheinen, weil sie bei Berlinbesuchen das „W“ in Treptow mitsprechen. Dort, wo ihr Name auf dem Klingelschild steht, sind sie der Souverän.

Ich frage mich, wie das die meisten „jungen Erwachsenen“ machen, die noch oder wieder bei ihren Eltern wohnen: Nach der jüngsten Sozialerhebung des Studentenwerks sind das 23,4 Prozent der Studenten. Ich treffe mich mit Bekannten, die noch daheim leben – als eine Art Selbsthilfegruppe und weil sonst kaum jemand in Ulm geblieben ist. Einer der Nesthocker erzählt einen Witz: „Sagt ein Dreijähriger zu einem Fünfjährigen, der noch nicht krabbeln kann: ,Du bist doof, schon fünf und kannst immer noch nicht laufen.‘ Sagt der andere: ,Nee, du bist doof. Strampelst dich schon mit drei ab. Ich habe mich bis fünf tragen lassen.‘“ Ich lache. Dann bekomme ich Angst. Denn die Sehnsucht nach der Eigenständigkeit wird immer geringer. Die häusliche Wärme lullt mich ein. Es ist eine wohlige, etwas stickige Zufriedenheit.

Fremde unter einem Dach

Tag 72
„Was trinkt ihr und wozu tanzt ihr, bevor alles zu Ende geht?“, frage ich meine Mutter. Ich lese aus dem Buch „Fragen, die wir unseren Eltern stellen sollten (solange sie noch da sind)“ von Marc Fischer vor. Ich hatte es vor ein paar Tagen in die Hände bekommen und festgestellt, dass ich überhaupt nicht weiß, wie meine Eltern die meisten Fragen beantworten würden. Haben sie je die Flucht aus ihrer Existenz geplant? Wofür würden sie töten – und sterben? Je weiter ich las, desto mehr kam es mir vor, als würde ich mit Fremden unter einem Dach wohnen. Ich habe deshalb beschlossen, sie kennenzulernen.

„Hast du Angst vor dem Sterben?“, frage ich meine Mutter. Über den Tod und das Altwerden haben wir noch nie geredet. „Angst – nein. Wenn du nicht mehr da bist, kriegst du es ja nicht mehr mit. Ich fürchte mich nur davor, dass die Gebliebenen traurig sind. Dass ich jemanden im Stich lasse, der mich brauchen könnte.“

Tag 103
Es ist Oktober und langsam kalt auf dem Dachboden. Bei einer Berliner Freundin ist gerade ein Zimmer frei geworden. Das Experiment neigt sich dem Ende. Mit ihr belade ich den Umzugswagen, meine Mama packt einen einmonatigen Vorrat Lebensmittel obendrauf, mein Stiefvater eine DVD mit der Discographie von Parov Stellar. Dann fahren wir los. Die Freundin lenkt, ich recke den Hals nach meinem Elternhaus. Als es aus der Sichtweite verschwindet, bin ich gar nicht so unglücklich darüber.

„Eltern haben die Funktion von Tankstellen – einmal anlehnen und weiter geht’s“, schreibt Charlotte Roche in ihrem Roman „Schoßgebete“. Es war schön zu wissen, dass es einen Ort gab, an dem ich für immer klein sein durfte. Aber es war auch an der Zeit, groß zu werden. „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel“, sagte Goethe. Die Wurzeln kann mir niemand nehmen. Aber ich habe auch die Pflicht, von den Flügeln Gebrauch zu machen.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch „Mama, das hast du schon 5 mal erzählt! Geschichten über das Älterwerden der Eltern“ von Ann-Kathrin Eckardt (Hrsg.), erschienen im Rororo-Verlag, 224 Seiten, 8,99 Euro

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