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Panorama: "Flatiron": Kühne Fluchtlinien

Wer in New York den Broadway hochläuft, sieht alle 500 Meter ein anderes Stadtbild. Kaum hat der Flaneur den Union Square mit dem Biomarkt und der wunderschönen "Barnes and Noble"-Buchhandlung überquert, landet er in einem Möbelviertel, in dem Geschäfte und ein großes Kaufhaus kitschige alte und kitschige neue Sofas, Sessel und Betten verkauft, die derzeit in Manhattan chic sind.

Von Andreas Oswald

Wer in New York den Broadway hochläuft, sieht alle 500 Meter ein anderes Stadtbild. Kaum hat der Flaneur den Union Square mit dem Biomarkt und der wunderschönen "Barnes and Noble"-Buchhandlung überquert, landet er in einem Möbelviertel, in dem Geschäfte und ein großes Kaufhaus kitschige alte und kitschige neue Sofas, Sessel und Betten verkauft, die derzeit in Manhattan chic sind. Die Häuser sind im Kontrast dazu ein wenig heruntergekommen. Umso hervorstechender wirkt das renovierte sogenannte "Flatiron", an dessen Spitze Passanten, die hier zum ersten Mal vorbeilaufen, verblüfft stehen bleiben, schauen sie doch durch die große Fensterfläche durch ein winziges Geschäft auf die nächste Straße, die hier spitz auf den Broadway zuläuft. Es ist die Fifth Avenue, die in diesem Bereich alles andere als nobel aussieht.

Obwohl das "Flatiron" längst nicht mehr der höchste Wolkenkratzer in New York ist, erhebt es sich doch wuchtig in die Höhe. Was den Betrachter so sehr einnimmt, sind die kühnen Fluchtlinien, die durch den bügeleisenförmigen Grundschnitt entstehen. Diese Bügeleisenform gab dem Gebäude einst auch seinen Namen. Je weiter sich der Betrachter von der Spitze entfernt, umso imposanter wirkt das Gebäude. Dummerweise muss man sich mitten auf eine gefährliche Kreuzung begeben, um den besten Blick zu haben. Aber die Autofahrer kennen zur Genüge Touristen, die mitten auf der Straße versuchen, das Gebäude zu fotografieren.

Mit dem Bau des "Flatiron" begann vor hundert Jahren die Ära der Wolkenkratzer in New York. Mit seinen 86 Metern Höhe war es das Wahrzeichen Manhattans. Es zählt seit langer Zeit nicht mehr zu den höchsten Gebäuden der Stadt. Das 381 Meter hohe "Empire State Building" (1931), die 412 Meter hochragenden Türme des "World Trade Centers" (1973) und viele andere Gebäude haben das "Flatiron" schon lange in der Höhe eingeholt. Sein Eindruck ist dennoch erhalten geblieben, weil die benachbarten Gebäude keine Wolkenkratzer sind und wegen der ausgefallenen Form.

Vor 100 Jahren, als der Bau begann, war der Entwurf eine Sensation. Es war der Grundstein für ein völlig neues Stadtbild, der da gelegt wurde. Die skurrile Form des "Flatiron" und seine damals enorme Höhe ließen es nach der Fertigstellung schnell zum bekanntesten Gebäude der Stadt werden. Viele Architekturexperten bezeichnen es als ersten Wolkenkratzer der Welt, was allerdings nicht stimmt.

Technische Neuerungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie Stahlträger als tragende Teile und elektrische Aufzüge, hatten es damals möglich gemacht, Wohn- und Bürogebäude mit mehr als fünf Stockwerken zu bauen. Daniel H. Burnham, Architekt des Flatiron, setzte bei seinem Entwurf ebenfalls auf die moderne Stahlskelettbauweise. So schaffte er es, in dem Gebäude, das er für die "Fuller Building Company" errichtete, mehr als 11 000 Quadratmeter Nutzfläche auf 22 Stockwerken unterzubringen. Und das auf einem "winzigen Stück Torte", wie es die Zeitschrift "Architectural Record" beschrieb. Die Fassade gestaltete Burnham mit Terrakotta-Platten.

Doch als das "Fuller Building", wie das "Flatiron" offiziell hieß, 1903 endlich bezogen wurde, meldeten sich gleich die Skeptiker zu Wort. Sie fürchteten, dass der Wind, der in dieser Gegend der Stadt besonders stark wehte, das Haus einstürzen lassen könnte. Tatsächlich wurde der Wind durch die großflächigen Fassaden des "Flatirons" noch verstärkt. Dies führte aber nicht zum prophezeiten Einsturz, sondern zu einem ganz anderen, unvorhergesehenen Problem. Wenn feine Damen an der Spitze des "Flatirons" vorbeiliefen, konnte es passieren, dass ihre Röcke von einer Windböe hochgeweht wurden und ihre Knöchel zum Vorschein kamen. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Skandal. Die Polizei stellte eine Wache auf, die die Männer von Blicken auf die Fußknöchel der Frauen abhalten sollte. Aber das war vor einem Jahrhundert.

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